In meinem letzten Beitrag über Rûmî sind die Begriffe „Ghasel“ und „Masnavî“ gefallen, und Sie haben wahrscheinlich verstanden, daß es sich dabei um Gedichtformen handelt. Rûmîs Hauptwerk trägt sogar „Masnavî“ im Titel.
Aber wie sieht ein Masnavî eigentlich aus? Und wie ein Ghasel? Das möchte ich Ihnen heute anhand von Beispielen kurz erklären. Dabei werden wir im wesentlichen bei Rûmîs Dichtung bleiben. Heute soll es um die dichterische Form gehen. Doch keine Sorge: Wir kommen bald auch noch auf die Inhalte der islamischen Mystik zu sprechen.
Unterhaltung oder Unterweisung – Masnavî
Also, was ist ein Masnavî? – Das Wort masnavî (arabisch: mathnawî) ist abgeleitet von einer arabischen Wortwurzel mit der Bedeutung „etwas doppelt legen“ und bezeichnet ein Gedicht aus Halbverspaaren (auf deutsch spricht man auch von Doppelversen), bei denen sich immer zwei Halbverse aufeinander reimen.
Frontispiz des 1. Buches von Rûmîs Masnavî in einer Handschrift von 1461
Da dieses Reimschema recht einfach zu handhaben ist, hat man diese Form traditionell für lange Gedichte verwendet, zum Beispiel für Epen.
Doch nicht nur epische Erzählungen sind häufig sehr ausführlich, sondern auch Lehrgedichte. Das sind Gedichte, in denen ein Thema behandelt wird wie in einer gelehrten Abhandlung oder einem Lehrbuch, nur eben nicht in Prosa, sondern in poetischer Form, also mit Metrum und Reim.
Um ein solches Lehrgedicht, nämlich zur islamischen Mystik, handelt es sich auch bei Rûmîs Masnavî. In diesem Werk erzählt Rûmî viele Geschichten – oft aus der schon Jahrhunderte vor ihm überlieferten Witz- und Anekdotenliteratur übernommen – und schließt dann die beabsichtigte Aussage an.
Doch andere Lehrgedichte in masnavî-Form enthalten keine solchen unterhaltenden Elemente, etwa solche aus dem Fachgebiet der Medizin. Dort diente die Versform vor allem als Gedächtnisstütze.
Immerhin läßt sich rhythmisch und in Reimen präsentiertes Material leichter auswendig lernen als Prosatexte. Das war zu Zeiten, als man weniger leicht an Literatur herankam als heute, durchaus wichtig. Man mußte viel mehr im Kopf behalten, weil die Möglichkeiten, etwas nachzuschlagen, nicht so allgegenwärtig gegeben waren.
Aber wie sieht so ein Text in masnavî-Form eigentlich aus? Um das zu sehen, müssen wir Übersetzungen bemühen, da diese Gedichtsform – anders als das Ghasel – nicht in Deutschland heimisch geworden ist.
Am bekanntesten sind die Übersetzungen eben aus Rûmîs Masnavî und aus den Werken anderer mystischer Dichter. Fachliteratur in masnavî-Form wird eher selten poetisch ins Deutsche übertragen.
Das Lied der Rohrflöte
Hier also eine Kostprobe aus dem Einleitungsabschnitt von Rûmîs Masnavî. Man nennt ihn das „Lied der Rohrflöte“, weil hier eine Rohrflöte als Symbol der menschlichen Seele zu Wort kommt und über ihre Trennung von der Ur-Heimat klagt.
Im Falle der Rohrflöte handelt es sich dabei um das Röhricht, aus dem sie stammt. Aber die menschliche Seele, für die sie symbolisch steht, sehnt sich in der Metapher des Röhrichts nach der Vereinigung mit Gott zurück:
Hör auf der Flöte Rohr, wie es erzählt
und wie es klagt, vom Trennungsschmerz gequält!
„Seit man mich aus der Heimat Röhricht schnitt,
weint alle Welt bei meinen Tönen mit!
Ich such ein Herz, vom Trennungsleid zerschlagen,
um von der Trennung Leiden ihm zu sagen.
Sehnt doch nach dem In-Einheit-Lebens-Glück,
wer fern vom Ursprung, immer sich zurück!
[…]
Kein Hauch, nein Feuer sich dem Rohr entwindet –
Verderben dem, den diese Glut nicht zündet!
Der Liebe Glut ist’s, die ins Rohr gefallen,
der Liebe Brausen läßt den Wein nur wallen.
[…]
In Leid sind unsre Tage hingeflogen,
und mit den Tagen Plagen mitgezogen;
Doch ziehn die Tage, laß sie ziehn in Ruh,
wenn du nur bleibst, der Reinen Reinster du!
[…]
(Rumi, Übers. Schimmel, mit Übernahmen von Hellmut Ritter, S. 23 u. 25)
Die Rohrflöte ist hier übrigens deshalb eine passende Metapher, weil ihr Klang klagend wirkt. Darauf wird auch zu Beginn des Abschnitts angespielt.
Auch im Deutschen heimisch – das Ghasel
Leichter gestaltet sich die Suche nach Beispielen beim Ghasel oder der Ghasele – beide Formen des Wortes existieren im Deutschen. Auch dieses Wort kommt aus dem Arabischen – sowohl auf arabisch als auch auf persisch heißt es ghazal. Das bedeutet in etwa „Liebesworte“ oder neudeutsch „Flirt“.
Gemeint ist eine lyrische Gedichtform, die sich wohl aus dem Einleitungsteil der längeren arabischen Qasîde entwickelt hat – einer Gedichtform, die vor allem für Lob und Schmähung verwendet wurde und einleitend meist Erinnerungen an eine verlorene Vergangenheit thematisiert, in der auch die Geliebte eine Rolle spielt.
Wie das Masnavî besteht auch das Ghasel aus aufeinander folgenden Halbverspaaren. Allerdings weicht das Reimschema ab: Nur die ersten beiden Halbverse reimen sich, danach zieht sich der Anfangsreim durch jeden zweiten Halbvers, während die ersten Halbverse jeweils unterschiedlich enden.
Seite aus einer Handschrift von Rûmîs Dîvân (um 1500)
Der Inhalt ist – wie die Bedeutung des Wortes schon vermuten läßt – hauptsächlich Liebesdichtung. Allerdings haben die großen persischen Dichter wie Sa’dî (Saadi, st. 1292), Rûmî und Goethes Dichter-„Zwilling“ Hâfez (Hafis, st. um 1390) die Liebeslyrik auch mit anderen Themen unterlegt.
In Ghaselen findet man deshalb spätestens ab dem 13. Jahrhundert auch in die Begriffe profaner Liebe gekleidete Schilderungen der mystischen Liebe zu Gott und Lobdichtung für Herrscher in Gestalt schwärmerischer Schilderungen der oder des Geliebten.
Besonders interessant ist aber, daß sich das Ghasel im 19. Jahrhundert auch im Deutschen als Reimschema eingebürgert hat. Deshalb kann man zu dieser Gedichtform nicht nur Übersetzungen aus orientalischen Sprachen, sondern auch originäre deutsche Gedichte finden.
Hoffmannsthal und Rückert: Ghaselendichtung auf deutsch
Dieses Beispiel originär deutscher Ghaselendichtung hier stammt von Hugo von Hoffmannsthal (st. 1874-1929):
In der ärmsten kleinen Geige liegt die Harmonie des Alls verborgen,
Liegt ekstatisch tiefstes Stöhnen, Jauchzen süßen Schalls verborgen;
In dem Stein am Wege liegt der Funke, der die Welt entzündet,
Liegt die Wucht des fürchterlichen, blitzesgleichen Pralls verborgen.
In dem Wort, dem abgegriffnen, liegt was mancher sinnend suchet:
Eine Wahrheit, mit der Klarheit leuchtenden Kristalls verborgen …
Lockt die Töne, sticht die Wahrheit, werft den Stein mit Riesenkräften!
Unsern Blicken ist Vollkommnes seit dem Tag des Sündenfalls verborgen.
(zitiert aus Wikipedia-Artikel „Ghasel“)
Da das Ghasel im 19. Jahrhundert auch unter deutschen Dichtern auf soviel Anklang stieß, ist es kein Wunder, daß der deutsche Dichter und Gelehrte, der die ansprechendsten Übersetzungen aus dem Persischen angefertigt hat, ebenfalls zu dieser Zeit lebte: Friedrich Rückert (1788-1866).
Unter Orientwissenschaftlern ist er für seine ästhetisch reizvollen, aber inhaltlich nicht immer korrekten Übertragungen aus mehreren Sprachen bekannt. Auch aus dem Arabischen hat er übersetzt, namentlich Teile des Korans.
Doch da wir uns hier für die Ghaselendichtung interessieren, stelle ich Ihnen die Übertragung eines mystischen Ghasels aus Rûmîs Dîvân vor:
Komm, komm! du bist die Seele, die Seele mir im Reigen.
Komm, komm! du bist die Ceder, die Ceder hier im Reigen.
O komm! Ein Quell des Lichtes entspringt aus deinem Schatten,
Und tausend Morgensterne sie tanzen dir im Reigen.
Hoch ist das Dach des Himmels, des siebenten, des höchsten;
Du ragest über alle mit heller Zier im Reigen.
Die Liebe hat mit Armen ergriffen mich am Nacken;
Ich halte dich ergriffen mit süßer Gier im Reigen.
Das Sonnenstäubchen tanzet, vom Licht der Sonn‘ ergriffen.
Licht, da du mich ergriffest, nicht mich verlier im Reigen.
Die Stäubchen kreisen schweigend, denn schweigend spricht die Liebe;
Mich schweigen lehret Liebe, so tanz‘ ich ihr im Reigen.
(Rumi in der Übersetzung von Friedrich Rückert 1819)
Vielleicht ist Ihnen aufgefallen, daß die Reime der Ghaselen sich noch aus einem weiteren Grund von denen des Masnavî-Gedichts unterscheiden: Hier enthält nämlich nicht immer das letzte Wort des Verses den Reim, sondern das vor- oder sogar drittletzte, während das letzte (und manchmal vorletzte) Wort nur wiederholt werden.
Tatsächlich wird es immer schwieriger, passende Reime zu finden, je weiter das eigentliche Reimwort im inneren des jeweiligen Halbverses liegt. Sie können es ja einmal ausprobieren, dann werden Sie es merken! Ich habe bisher noch keine solche Nachdichtung fertiggebracht. Es handelt sich also um ein Beispiel äußerst anspruchsvoller Dichtkunst.
Das ist durchaus typisch für die hochentwickelte persische Dichtung, die auch durch zahlreiche Konventionen geprägt ist. Doch auf deren Besonderheiten kommen wir ein anderes Mal zu sprechen.
Quelle
Dschelaluddin Rumi: Das Mathnawi: Ausgewählte Geschichten. Aus dem Persischen von Annemarie Schimmel. Mit Illustrationen von Ingrid Schaar. Basel: Sphinx, 1994. S. 23 u. 25.
Bildnachweis
Beitragsbild: Seite aus einer iranischen Handschrift von Rûmîs Masnavî (1479)
Quelle: Wikimedia Commons
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Frontispiz in einer iranischen Handschrift von Rûmîs Masnavî (1461):
Quelle: Wikimedia Commons
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Seite aus Rûmîs Dîvân aus der Bibliothèque nationale de France, Paris (um 1500)
Quelle: Wikimedia Commons
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