Von Scheichen und Adepten – Bruderschaften und Läuterungsmethoden

Hinrichtung des Hallâdsch (Handschriftenillustration um 1600)

In meinem letzten Beitrag zum Sufismus haben Sie erfahren, daß die Sufis versuchten, eine direkte Gotteserfahrung herbeizuführen. Im besten Fall sollte diese in eine Einheitserfahrung münden, bei der sich das Ich des Sufis völlig im Wesen Gottes auflöst.

Diese höchste Stufe des mystischen Erlebens erreichten freilich nicht viele Sufis. Wer es schaffte, konnte in üble Schwierigkeiten geraten. Denn dieses Erlebnis verführte zu drastischen Aussagen, wie sie zum Beispiel der Bagdader Mystiker al-Hallâdsch (st. 922) getätigt hat. Er äußerte seine mystische Verzückung in dem berühmten Ausspruch: “Anâ l-haqq – Ich bin die absolute Wahrheit (d.h.: Gott)”.

Das kam bei den streng monotheistischen Zeitgenossen nicht besonders gut an. Daß er tatsächlich als “Ketzer” hingerichtet wurde hat aber wahrscheinlich noch ganz andere Gründe. Restlos geklärt ist die Sache nicht.

Der göttliche Funke und die Entstehung der Bruderschaften

Im großen und ganzen vertrug sich die Mystik aber ganz gut mit dem Hauptstrom des sunnitischen Islam. Ab dem Ende des 11. Jahrhunderts verbreitete sich der Sufismus denn auch stärker in der Bevölkerung. Bis zum Ende des 12. Jahrhunderts entwickelten sich außerdem neue Ideen.

Man nahm jetzt aus den gnostischen Strömungen den Gedanken auf, daß es einen göttlichen Funken im Menschen gebe, der durch die Läuterungstechniken der Sufis befreit und zu seinem Ursprung zurückgeführt werden müsse.  Yahyâ as-Suhrawardî (st. 1191) entwickelte die einflußreiche Lehre der Erleuchtung (ischrâq), die von Gott als dem absoluten Licht ausgeht. Erst die Erleuchtung durch dieses göttlichd Licht ermöglicht es dem Licht im Menschen, sich von der Materie zu befreien.

Um dieselbe Zeit beginnen die Sufis auch langsam, sich in Bruderschaften oder “Orden” zusammenzuschließen. Sicher nachweisen lassen sich solche Bruderschaften ab dem 13. Jahrhundert, und im 14. Jahrhundert erreichten sie eine Blütezeit.

Was wir als “Bruderschaft” oder “Orden” wiedergeben heißt auf arabisch tarîqa und bedeutet soviel wie “Weg” oder “Methode”. Man spricht auch vom “mystischen Pfad”, den die Adepten, also die Sufi-Schüler beschreiten. Diese Bezeichnung wurde auf die Bruderschaften übertragen, in denen sich Menschen versammelten, um diesen Pfad zu beschreiten.

Dabei bildeten sich feste Rituale der Einweihung, Läuterungs- und Meditationsübungen heraus. Sie sind eines der wesentlichen Unterscheidungsmerkmale der verschiedenen Bruderschaften.

Gottesgedenken und Musikveranstaltungen

Das “Gedenken Gottes” (zekr, arab.: dhikr) praktizierten zwar alle Bruderschaften als zentrale Meditationsübung. Doch die dabei verwendeten Anrufungen Gottes und Formeln unterschieden sich ebenso wie die Einstellung zum Hören von Musik und Dichtung und zum Tanz.

Manche Bruderschaften lehnten die letztgenannten Methoden ab, manche nutzten sie, um Trancezustände herbeizuführen. Dabei gab es auch Unterschiede, in welcher Form Musik und Tanz ala zulässig und zielführend betrachtet wurden.

Musik und Tanz zogen durchaus beißende Kritik und Spott von außerhalb der Bruderschaften auf sich. Bei unfreundlicher Betrachtung konnte man den Einsatz von Musik, Liebesdichtung und Tanz nämlich als Hingabe an sinnliche Genüsse auslegen. Zumal dann, wenn ein hübscher Jüngling anwesend war, dessen Schönheit man betrachtete, um sich in in die Wunder von  Gottes Schöpfung zu vertiefen oder sich die Schönheit Gottes symbolisch zu vergegenwärtigen.

Auch in der Frage, ob das Gottesgedenken laut oder leise, zu eigens festgesetzten Gelegenheiten oder beständig während der Alltagsgeschäfte durchgeführt werden sollte, unterschieden sich die Bruderschaften.

Dasselbe gilt für die Einstellung zum Broterwerb und Besitz und zur Einmischung in Politik und gesellschaftliche Angelegenheiten. Von Armut und sogar Bettelei bis zu ganz normalem Arbeitsleben, von völligem Rückzug bis hin zum Wirken an Herrscherhöfen und sogar zur Ausübung politischer Herrschaft durch die Scheiche gab es alle denkbaren Schattierungen.

Scheiche und Adepten

Gemeinsam war den Bruderschaften jedoch, daß sie von einem Oberhaupt geleitet wurden, das man auf arabisch Scheich, auf persisch Pîr nannte. Beides bedeutet “alter Herr”. Alter ist in diesem kulturellen Umfeld eine Eigenschaft, die Respekt hervorruft. Der Scheich weihte Schüler oder Adepten nach einem festgelegten Ritual in die Bruderschaft ein. Die arabische Bezeichnung für den Adepten ist murîd (persische Aussprache: morîd). Das heißt: jemand, der etwas anstrebt – nämlich das unmittelbare Gotteserleben.

Der Schrein des ʿAbd al-Qâdir Jîlânî (Gründervater der Qâdiriyya-Bruderschaft)

Im Rahmen der Einweihung schwor der Adept dem Scheich, dessen Anweisungen widerspruchslos zu folgen. Dafür begleitete der Scheich seine Fortschritte auf dem mystischen Pfad, indem er Erlebnisse wie Träume und Visionen deutete und dem Adepten Übungen auftrug und ihn dabei anleitete.

Auch die aktuelle Position des Adepten auf dem mystischen Pfad, seinen maqâm – zu deutsch: “Standplatz” – hatte der Scheich einzuschätzen, um passende Übungen auswählen zu können. Neben diesen Positionen, die den Entwicklungsstand des Adepten markierten und die er über einen längeren Zeitraum hinweg innehatte, gab es auch noch kurzfristige Zustände (hâl), zum Beispiel solche der Verzückung in einer Trance.

Dazu konnte es auch unter dem Einfluß von Gedichtvorträgen, Musik und Tanz kommen. Sie fanden in gemeinschaftlichen Sitzungen in den Zentren der Bruderschaften statt. Diese dienten auch dazu, Fremden Unterkunft zu gewähren und Speisen an die Armen auszuteilen. Die arabische Bezeichnung für so ein Zentrum lautet zâwiya, auf persisch heißt es chân(a)qâh und auf türkisch tekye oder tekke.

Gründerväter, “Gottesfreunde” und “Gnadengaben”

Bezeichnet wurden die Bruderschaften meist nach einem berühmten früheren Sufi, der als Gründervater gilt. Auf ihn führten sich die Bruderschaften über eine “spirituelle Kette” (selsele, arab.: silsila) von Scheichen zurück. Oftmals wird die Kette dann vom Gründervater über eine Reihe von Zwischengliedern auf den Propheten Muhammad zurückgeführt.

Allerdings haben die Gründerväter meist nicht selbst die Bruderschaft ins Leben gerufen, sondern ihr Schülerkreis oder sogar erst die auf die unmittelbaren Schüler folgende Generation schlossen sich zu einer organisierten Bruderschaft zusammen und benannten sie nach dem Lehrer, auf dessen Lehren sie sich beriefen. Ein Beispiel dafür ist die Moulaviyya-/Mevlevî-Bruderschaft, die sich auf Rûmî als ihren Gründervater beruft.

Berühmte sufische Meister wir Rûmî sind es auch, die gemeinhin als “Gottesfreunde” bezeichnet werden. Auf arabisch nennt man sie auliyâ’ (im Singular: walî), also Menschen, die Gott besonders nahe sind. Deshalb werden sie auf deutsch auch manchmal als “Heilige” bezeichnet. Das ist wie immer, wenn man Begriffe aus einer Religion in die einer anderen überträgt, nicht ganz richtig und nicht ganz falsch.

Tatsächlich wurden den “Gottesfreunden” sogenannte “Wunder” zugeschrieben. Für unser Wort Wunder gibt es allerdings mehrere arabische Bezeichnungen, je nachdem, wer das Wunder zu welchem Zweck wirkt. Die Wunder großer Sufi-Scheiche nennt man “Gnadengaben” (karâmât). Damit ist auch schon gesagt, daß es sich nicht um eine Eigenleistung des Scheichs handelt, sondern um eine Gabe Gottes, mit der er dem “Gottesfreund” eine besondere Gnade erweist.

Grundsätzlich steht dahinter die Vorstellung, daß Gott alles, was geschieht, direkt bewirkt. Er tut dies aber nicht willkürlich, sondern folgt gewissen “Gewohnheiten”, die das Weltgeschehen für die Menschen berechenbarer machen. So ist es zum Beispiel einer Gewohnheit Gottes zuzuschreiben, daß etwas, was ich in der Hand halte und dann loslasse, in der Regel nach unten fällt.

Das bedeutet aber nicht, daß Gott nicht in der Lage wäre, seine eigene Gewohnheit zu jedem beliebigen Zeitpunkt zu durchbrechen. Dieses “Durchbrechen der Gewohnheit” ist es, was wir als Wunder wahrnehmen.

Anders als die Beglaubigungswunder der Propheten sollten die “Gnadengaben” der Sufis übrigens nicht publik gemacht, sondern vielmehr geheimgehalten werden. Trotzdem werden solche Wunder aber regelmäßig in den Biographien der “Gottesfreunde” berichtet, da sie die besondere Gottesnähe des betreffenden Scheichs verdeutlichen.

Bildnachweis

Beitragsbild: Tanzende Derwische an Rûmîs Mausoleum in Konya
Quelle: Wikimedia Commons
Urheber: User:Intension
Lizenz: Creative Commons 3.0
unverändert übernommen

Hinrichtung des Hallâdsch:
Quelle: Wikimedia Commons
Gemeinfrei/Public domain

Schrein des ʿAbd al-Qâdir Jîlânî:
Quelle: Wikimedia Commons
Urheber: VrMUSLIM
Lizenz: Creative Commons 3.0
unverändert übernommen

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