Verwirrend, aber farbenfroh: Die Sprachen der Flüchtlinge in Deutschland (Gastbeitrag von Kira Schmidt Stiedenroth)

Heute bekommen Sie einen exklusiven Bericht meiner Kollegin Kira Schmidt Stiedenroth aus ihrem aktuellen Arbeitsalltag in einem Flüchtlingsheim. Und nun gebe ich Kira das Wort:

Flüchtlinge kommen aus der ganzen Welt nach Deutschland, entsprechend bringen sie eine große Vielfalt an Sprachen, kulturellen Hintergründen und Religionen mit. Menschen fliehen nicht nur vor Krieg oder humanitären Katastrophen, auch politische Verfolgung und Gefahr für Leib und Leben sind rechtliche Gründe, um die Anerkennung des Flüchtlingsstatus nach den Genfer Konventionen zu erhalten.

Leider gibt es beinahe auf der ganzen Welt Menschen, die solchen Gefahren aus verschiedenen Gründen ausgesetzt sind. Gerade ethnische oder religiöse Minderheiten werden in manchen Ländern diskriminiert oder verfolgt, deshalb ist die religiöse und sprachliche Vielfalt unter Flüchtlingen extrem groß.

Durch meine Arbeit als Leiterin einer Flüchtlingsunterkunft habe ich festgestellt, dass sogar unter sehr engagierten ehrenamtlichen Mitarbeitern Unklarheiten vorhanden sind, was die Sprachen der Flüchtlinge angeht. So habe ich zum Beispiel einmal erlebt, wie eine freiwillige Helferin stolz ihren neu erworbenen arabischen Wortschatz bei afghanischen Bewohnern zu testen versuchte. Dies führte zunächst zu Verwirrung, anschließend brachte die komische Situation alle zum Lachen.

Obwohl die Herkunft der Flüchtlinge immer vielfältig war, scheint in letzter Zeit besonders das Interesse an der arabischen Sprache im Kontext der Flüchtlingshilfe gewachsen zu sein, was selbstverständlich an der großen Anzahl syrischer Schutzsuchender liegt. Aber der Gedanke, dass alle muslimischen Flüchtlinge Arabisch sprächen, ist genauso irreführend wie die Idee, dass alle Flüchtlinge aus arabisch-sprechenden Ländern Muslime seien.

Dies wird leider oft genauso angenommen, was zu Missverständnissen im Alltag der Flüchtlingsarbeit führt. Nicht alle Tritte ins Fettnäpfchen enden so glücklich wie in meinem Beispiel. Daher ist es wichtig, sich einen Überblick über Sprachen, Kulturen und Religionen der Menschen zu verschaffen, die wir in unserem Land willkommen heißen möchten.

In der Tat ist Arabisch zur Zeit wohl die meistgesprochene Sprache unter Flüchtlingen. Viele Menschen aus Ländern in Nordafrika und im Nahen Osten, wo Arabisch als Amtssprache gilt, haben Asylanträge gestellt. Die meisten davon kommen aus Syrien. 2016 wurde laut Angaben des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge die Mehrheit der Asylanträge von Syrern gestellt.

Irak, ein weiteres Land mit Arabisch als Amtssprache, steht auf Platz drei der Herkunftsländer der Antragsteller. Aber im Irak genießt neben Arabisch auch Kurdisch den Amtssprachen-Status. Kurdisch wird auch von einigen Syrern gesprochen sowie zum Teil von türkischen Flüchtlingen, die es neben Türkisch beherrschen.

Kurdisch mag für Persisch- und sogar für Urdu-Sprecher vertraut klingen: die indogermanische Sprache gehört zu der Unterfamilie der iranischen Sprachen. Es gibt durchaus Iraker, die gar kein Arabisch sprechen können, sondern nur Kurdisch. Wenn eine kurdischsprachige Bewohnerin zum Arzt muss und weder Deutsch noch Englisch spricht, muss ich einen Kurdisch-Dolmetscher für sie organisieren. Klingt ganz einfach. In der Praxis ist es aber etwas komplizierter…

Sprachen und Dialekte

Ein Lieblingsgesprächsthema der Deutschen – so habe ich festgestellt, als ich selbst hier Deutsch gelernt habe – sind die unterschiedlichen Dialekte, von Ostfriesisch bis Schwäbisch, von Sächsisch bis Bayerisch. Ein Dialekt wird als eine regionale Variation einer Sprache definiert, die sich – im Gegensatz zum Akzent – nicht nur in der Aussprache, sondern auch z.B. im Wortschatz oder in der Grammatik, unterscheidet.

Kurdisch hat ähnlich wie Deutsch verschiedene Dialekte. Die meisten Kurdisch-Sprecher beherrschen entweder Kurmandschi (oder Nordkurdisch) oder Sorani (Zentralkurdisch). Die Frage nach dem Dialekt ist hier entscheidend: anders als im Deutschen, wo zu erwarten wäre, dass ein Sachse sich mit einem Schwaben zumindest verständigen kann – auch wenn dies schwierig sein mag –, verstehen sich Kurdisch-Sprecher oft nicht untereinander, wenn sie unterschiedliche Dialekte sprechen.

Deshalb ist bei Kurdisch die Frage des Dialektes von großer praktischer Bedeutung, wenn es um die Bestellung von Kultur- und Sprachmittlern geht.

Neben Arabisch ist Persisch eine weitere wichtige Sprache der Asylsuchenden und anerkannten Flüchtlinge in Deutschland. Die iranische Variante des Persischen wird auch Farsi genannt. Iraner bildeten letztes Jahr laut dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge die viertgrößte Gruppe von Asylantragstellern. Auch Flüchtlinge aus Tadschikistan, Usbekistan und anderen zentralasiatischen Ländern sprechen z.T. Persisch.

Unter den Flüchtlingen sind die größte Gruppe der Persisch-Sprecher aber vermutlich die Afghanen: mit mehr als 125.000 Anträgen war Afghanistan das Land mit der zweitgrößten Gruppe von Asylantragstellern im Jahr 2016.

Viele Afghanen behaupten, Dari zu sprechen. Dari wird oft als die afghanische Variation des Persischen betrachtet, wobei Dari als regionale Bezeichnung für die gleiche Sprache gilt, nicht als eigenständiger Dialekt. Doch ich habe oft erlebt, dass Dari-Sprecher aus Afghanistan sich mit einem Farsi-Dolmetscher aus Iran nicht gut genug verständigen können, um einen Arztbesuch reibungslos durchzuführen.

Hier scheint das Bildungsniveau eine wichtige Rolle zu spielen: Hoch-Persisch wird in der Schule gelernt, aber nicht jeder hat die Schule besucht. Auch die eigene Biographie spielt eine wichtige Rolle: afghanische Flüchtlinge, die in Iran gelebt haben oder gar dort geboren wurden, haben logischerweise weniger Probleme, sich mit Iranern zu verständigen, auch wenn sie in der iranischen Gesellschaft nie integriert waren. (Anm. SK: Die Afghanen sind in Iran die „Gastarbeiter“.)

Die unterschiedlichen Dialekte werfen die interessante Frage nach den Grenzen zwischen Dialekt und eigenständiger Sprache auf. Eine Frage die nicht nur aus linguistischer, sondern auch aus politischer Sicht bedeutsam ist. Die Anerkennung und Legitimation von Sprachen und somit ethnischen Gruppen als eigenständige Einheiten hängt eng mit territorialen Ansprüchen und der Idee von Nationen zusammen.

Oft werden Sprachen aus politisch-taktischen Gründen abwertend als Dialekte bezeichnet. Im Umkehrschluss gibt es in der Geschichte Beispiele, wo Sprachvariationen aufgrund religiöser bzw. territorialer Trennung sich als voneinander abgetrennte, eigenständige Sprachen entwickelt haben: Hindi und Urdu sind hier Paradebeispiele.

Weitere bedeutende Sprachen der Flüchtlinge in Deutschland

Unter Afghanen wird nicht nur Farsi oder Dari gesprochen, sondern häufig auch Pashto. Zusätzlich beherrschen z.B. afghanische Hindus auch Hindi (auch die Schrift), Urdu (welches, dank Dari, auch gelesen werden kann) und sogar Panjabi: indische Sprachen, die auf die ursprüngliche Herkunft der Vorfahren hindeuten.

Es gibt auch nicht-Hindu Afghanen, die trotzdem Hindi oder Urdu sprechen oder zumindest verstehen. Das haben sie zum Teil den Massenmedien zu verdanken: filmophile Afghanen lernen Hindi (bzw. Urdu) durch Bollywood-Filme und indische Fernsehserien. Andere haben zuvor als Flüchtlinge in Pakistan gelebt und sich dort die Landessprache angeeignet.

Durch die Vielzahl von Asylantragstellern aus den Balkanländern finden wir die Sprachen der Region unter den meistgesprochenen in Flüchtlingsunterkünften. Asylantragsteller aus Albanien und Mazedonien können oft nebst Albanisch bzw. Mazedonisch auch Griechisch und sogar Türkisch, letztere eine Sprache die auch oft von Syrern und anderen Flüchtlingen, die lange Zeit in der Türkei verbracht haben, gesprochen wird. Auch Russisch ist eine wichtige Sprache.

Flüchtlinge aus Afrika vertreten eine große Anzahl von Sprachgemeinschaften. Menschen aus Nigeria sprechen i.d.R. neben einer der über 500 Sprachen des Landes (z.B. Hausa oder Yoruba) gut Englisch, die Amtssprache des Landes. Manche Nigerianer – besonders die aus dem nördlichen Teil des Landes – sprechen oder verstehen auch Arabisch. Flüchtlinge aus Guinea sprechen z.T. neben einer der mehr als 40 Sprachen des Landes auch die Amtssprache Französisch.

Südasiatische Flüchtlinge (zur Zeit meistens aus Bangladesch, Indien und Pakistan) sprechen je nach Herkunftsregion oft Balochi, Bengali, Hindi, Urdu, Paschto, Panjabi oder Tamil. Manche von ihnen beherrschen auch Englisch.

Dass viele Flüchtlinge aus afrikanischen oder südasiatischen Ländern neben ihren Muttersprachen auch Französisch bzw. Englisch sprechen hängt mit dem kolonialen Erbe zusammen, worin diese Sprachen zu Amtssprachen in diesen Ländern gemacht wurden.

Die hier genannten Sprachen zählen vielleicht zu den meistvertretenen Sprachen bei den Flüchtlingen, die zur Zeit in Deutschland sind. Diese Liste ist keinesfalls vollständig. Trotzdem können wir uns anhand dieser enormen sprachlichen Vielfalt vielleicht besser vorstellen, mit welchen Herausforderungen die Flüchtlinge untereinander, aber auch die Menschen, die mit Flüchtlingen arbeiten, täglich konfrontiert sind.

Deshalb ist das Erlernen von Deutsch extrem nützlich nicht nur nach der Anerkennung der Flüchtlingseigenschaft oder der Erteilung von subsidiärem Schutz, sondern direkt nach der Ankunft.

Die Vielfalt der Sprachen als Bereicherung

Viele Flüchtlinge – vielleicht sogar die meisten –, denen ich begegnet bin, würde ich als Sprachtalente bezeichnen. Sie sprechen i.d.R. mehr als nur eine Sprache, sei es weil sie zu einer Minderheit ihrer Herkunftsländer gehören, weil sie sich durch ihre Fluchterfahrung für längere Zeit in verschiedenen Ländern aufhalten mussten oder weil sie zu den Privilegierten zählen, die eine gute Schul- oder sogar höhere Bildung genießen konnten, bevor sie ihr Land verlassen mussten.

Viele haben mittlerweile sehr gut Deutsch gelernt und engagieren sich ehrenamtlich als Kultur- und Sprachmittler, um andere Flüchtlinge im Alltag zu unterstützen.

Seit neun Monate arbeite ich in einer Flüchtlingsunterkunft. In dieser Zeit konnte ich die sprachlichen Fortschritte vieler Bewohner verfolgen. Am beeindruckendsten finde ich immer die Geschwindigkeit, mit der Kinder sich die deutsche Sprache aneignen.

Zugegeben, es gibt auch wenig begabte Bewohner wenn es um das Deutschlernen geht. Vor allem ältere Menschen haben selbst nach langer Zeit im Lande Schwierigkeiten, sich auf Deutsch zu verständigen. Trotzdem bemühen sie sich oft um ein „Guten Tag“ oder bedanken sich auf Deutsch.

Nicht alle Flüchtlinge werden für immer in Deutschland bleiben. Sie werden eines Tages in ihre Heimat zurückkehren oder ihr Glück in einem anderen Land versuchen. Dorthin werden sie die deutsche Sprache mitnehmen und damit auch ein Stück deutsche Kultur. Und sie werden auch ihre eigene Sprache mit Deutsch bereichern, eine Entwicklung, die wir bereits beobachten können.

Neulich erzählte mir eine Kollegin, die selbst aus Marokko stammt und neben maghrebinischem Arabisch auch Hoch-Arabisch, Berberisch, Französisch, Englisch und Deutsch spricht, lachend, dass manche Bewohner in der von uns betreuten Unterkunft mittlerweile von “Ausweisāt” sprechen. Et voilà: ein arabischer Plural wird aus einem deutschen Wort gebildet. Deutsch wird „arabisiert“ oder besser gesagt: nicht Deutsch wird „arabisiert“, sondern Arabisch und auch andere Sprachen wie Persisch werden „deutschisiert“.

Denn “Ausweis” gehört – neben „Termin“, „Dolmetscher“, „Jobcenter“ und „Sozial“ (damit ist das Sozialamt gemeint) – mittlerweile zu den Standardwörtern, die in Beratungsgesprächen seitens der Unterkunftbewohner auftauchen, auch wenn ein Dolmetscher das Gespräch übersetzt. Sie scheinen bereits in ihre eigenen Sprachen integriert zu sein.

Somit hat Deutsch bereits seinen Weg ins Arabische, Persische und andere Sprachen gefunden. Wie Deutsch von der Vielfalt der Sprachen der Flüchtlinge beeinflusst und welche Konsequenzen dies haben wird, werden wir wahrscheinlich bald erfahren. Eine spannende Entwicklung, die nicht nur für Linguisten interessant ist.

Literatur

Bundesamt für Migration und Flüchtlinge 2016. Asylgeschäftsstatistik für den Monat November 2016. Online Verfügbar aus: http://www.bamf.de/SharedDocs/Anlagen/DE/Downloads/Infothek/Statistik/Asyl/201611-statistik-anlage-asyl-geschaeftsbericht.pdf?__blob=publicationFile (Zugang: 7. Januar 2016).

Bildnachweis

Beitragsbild: Weltkarte der Sprachfamilien
Quelle: Wikimedia Commons
Lizenz: Creative Commons 3.0
Urheber: Industrius
unverändert übernommen

Dr.des. Kira Schmidt Stiedenroth ist Ethnologin und hat bis April 2015 zusammen mit den Blogbetreiberinnen in einem DFG-Forschungsprojekt an der Ruhr-Universität Bochum gearbeitet. Zur Zeit leitet sie eine Flüchtlingsunterkunft.

Finde den Denkfehler! – Wenn Muslime Ayurveda auf persisch erklären

Vor ein paar Jahren fiel mir in einem persischen Werk über ayurvedische Medizin aus dem 17. Jahrhundert eine interessante Argumentationsfigur auf. Meiner Ansicht nach ist sie ein Hinweis darauf, daß indische Muslime ganz selbstverständlich davon ausgingen, daß Medizin ein global verbreitetes Wissensfeld sei, das selbstverständlich gemäß der Theorie der graeco-islamischen Medizin funktioniere.

So ähnlich ist das heute in der modernen westlichen Medizin ja auch: Medizin ist global anwendbar und gültig, und es kann auch in allen Traditionen der Welt wirksame Heilmittel und Behandlungsmethoden geben. Ob sie allerdings wirksam sind, zeigt sich erst, wenn sie unter Laborbedingungen mit naturwissenschaftlicher Methodik getestet worden sind.

Sind Heilerfolge unter diesen Voraussetzungen reproduzierbar, dann ist das Mittel oder die Methode wirksam und kann in die medizinische Behandlung integriert werden. Anderenfalls zählt es nicht zur Medizin, sondern ist Scharlatanerie.

Das wirksame Mittel oder die wirksame Behandlung sind also unabhängig von der Theorie wirksam, die ihrer Anwendung in der Herkunftstradition ursprünglich zugrunde lag. Mit anderen Worten: Man kann die ursprüngliche Theorie ignorieren, die ohnehin nicht richtig sein kann, sofern sie nicht mit modernen naturwissenschaftlichen Erkenntnissen übereinstimmt.

Ein Beispiel: Bestimmte Heilmittel, die seit Jahrhunderten in der graeco-islamischen Medizin zur Behandlung bestimmter Krankheiten verwendet werden, können sich in einem Labortest durchaus als wirksam gegen diese Krankheiten erweisen. Trotzdem wird man aber die Säftelehre, die in der graeco-islamischen Tradition bis dahin zur Erklärung der Wirksamkeit dieser Mittel herangezogen wurde, als falsch betrachten, weil sie modernen naturwissenschaftlichen Erkenntnissen nicht entspricht.

Mit anderen Worten: Man wendet auf diese Heilmittel eine der Ursprungstradition fremde Theorie an, derzufolge die Theorie der Ursprungstradition falsch sein muß. Wenn die Heilmittel diesem Prozeß standhalten, dann werden sie akzeptiert.

Soweit die Sichtweise der modernen westlichen Medizin. Doch was tut unser Verfasser des persischen Werkes aus dem 17. Jahrhundert? Auch er ist in erster Linie an Heilmitteln und Behandlungsmethoden aus dem Ayurveda interessiert, vermutlich weil er sie als wirksam erachtete. Was jedoch die zugehörige Theorie angeht, argumentiert er wie folgt:

Einige Ärzte Indiens wie Dhanvantari und Sušruta und Čaraka haben gesagt, der Mensch sei aus fünf h-t-t (vermutlich eine Verschreibung für b-h-t, also bhut von den fünf ayurvedischen Elementen mahabhuta), das heißt, aus fünf Elementen zusammengesetzt, nämlich den vier erwähnten [Erde, Wasser, Luft und Feuer, SK] und dem fünften, dem Himmel, aber diese Behauptung ist falsch, denn wenn es so wäre, dann wäre auch sein Gegenpart notwendig, denn ohne seinen Gegenpart kann kein Element für eine lange Zeitspanne in einer Zusammensetzung bleiben. (S. 4f)

Mit anderen Worten, der Autor argumentiert gegen das Konzept von fünf Elementen in der ayurvedischen Medizin, indem er die in der graeco-islamischen Medizin verbreitete Logik anwendet. Demnach benötigt jedes Element einen Gegenpart, ohne den das nötige Gleichgewicht innerhalb der Verbindung der Elemente zu einem Körper nicht gehalten werden kann.

Jedes Element hat nämlich eine von vier Primäreigenschaften, von denen jeweils zwei einen Gegensatz bilden: heiß, kalt, feucht und trocken. In diesem System halten sich dann die Elemente mit gegensätzlichen Primäreigenschaften gegenseitig im Gleichgewicht. Unter dieser Voraussetzung ist die Annahme von fünf oder jeder anderen ungeraden Anzahl von Elementen in der Tat unsinnig.

Nur ist diese Voraussetzung im Denkgebäude der ayurvedischen Medizin in dieser Form nicht vorhanden. Aus der Sicht eines modernen Kulturwissenschaftlers enthält das Argument des Autors deshalb einen Denkfehler. Allerdings einen, den wir heute auch häufig machen, ohne es überhaupt zu bemerken (s.u.)

Selbstverständlich funktioniert die Theorie der ayurvedischen Medizin von den fünf Elementen auf Grundlage der Denkvoraussetzungen der graeco-islamischen Medizin nicht.

Denn die graeco-islamische Medizin geht ja davon aus, daß es nur vier Elemente gibt, von denen sich jeweils zwei immer gegenseitig ausbalancieren müssen.

Nur heißt das nicht, daß die Theorie von den fünf Elementen auf Grundlage der Denkvoraussetzungen der ayurvedischen Medizin nicht sehr gut funktionieren kann. Tut sie natürlich auch.

Die Anwendung einer Denkvoraussetzung aus der graeco-islamischen Medizin könnte in diesem Fall auch damit zu tun haben, daß der Verfasser ayurvedische Begrifflichkeiten auf persisch verständlich machen muß. Dazu verwendet er die aus der graeco-islamischen Medizin bekannte Terminologie (z.B. das Wort für „Elemente“).

Da Wörter auch viele unausgesprochene Vorstellungen transportieren, kommt es dabei leicht zu unbemerkten Mißverständnissen.

Dieses Problem kennt man auch aus der Religionswissenschaft, wo häufig christliche Begrifflichkeiten verwendet werden, um nicht-christliche Vorstellungen zu erklären. Dabei kommt es leicht zu Verzerrungen, wenn man nicht sehr aufpaßt.

Der grundlegende Denkfehler unseres persischsprachigen Autors bei der Beurteilung ayurvedischer Theorie dürfte nun offenkundig sein: Die Denkvoraussetzungen und Logik einer Tradition werden auf die Theorie einer anderen angewendet und führen deshalb folgerichtig zu der Überzeugung, daß die Theorie der anderen Tradition unsinnig sei – zumindest mit Blick auf diesen Punkt.
Aber wie oft wenden wir im alltäglichen Umgang mit anderen Kulturen und in der öffentlichen Diskussion über sie ebenfalls unsere eigenen, kulturell geprägten Denkvoraussetzungen an?
Wann immer wir das tun, machen wir genau denselben Denkfehler, ohne es überhaupt zu merken. Achten Sie doch bei der nächsten Diskussion über „den Islam“ und „die Muslime“ einmal darauf! Vielleicht machen Sie dabei interessante Entdeckungen.

P.S.:

Falls Sie mehr über meine Überlegungen zu den Ähnlichkeiten der graeco-islamischen und der modernen westlichen Medizin als „globaler Medizin“ ihrer jeweiligen Zeit wissen möchten, können Sie meinen wissenschaftlichen Aufsatz zu diesem Thema hier kostenlos herunterladen: http://omp.ub.rub.de/index.php/RUB/catalog/book/24.

Quelle

Amnābādī (oder: Eymanābādī), Darvīš Moḥammad: Ṭebb-e Aurangšāhī. Ms. Persian 202 C der Wellcome Library, London.

Bildnachweis:

Eigener Screenshot mit Verfremdungseffekt von Ms. Persian 202 C (Wellcome Library, London), S. 4f.

Wenn Ihnen der Beitrag gefallen hat, können Sie diesen Blog unterstützen durch: Liken, Bewerten, Teilen oder durch eine PayPal- oder Flattr-Spende. Facebook- und Twitter-Buttons kann ich leider aus rechtlichen Gründen nicht einbinden. Sie können mir aber auf Facebook und Twitter folgen: Facebook: https://www.facebook.com/persophoniekulturgeschichtewordpresscom-694581900616159/ und Twitter: @PersophonieKuGe (s. auch die neue Twitter-Timeline im linken Menü).

Donate Button with Credit Cards

Neues Jahr, neues Glück – Rück- und Ausblicke und eine kleine Umfrage

Zunächst einmal herzlichen Dank an alle unsere Blogleser! Auch in diesem Jahr sind die Besucherzahlen wieder gewachsen, und die Zahl der Seitenaufrufe hat sich erhöht. Wir hatten sogar fast doppelt so viele Besucher wie im Vorjahr. Das ist ein schönes Ergebnis und motiviert zum Weitermachen. 🙂

Sobald die offizielle Statistik von WordPress da ist, die man hier mit einem Klick als Beitrag posten kann, bekommen Sie auch noch die genauen Zahlen.

Da wir im letzten Jahr eine Menge Änderungen am Blog vorgenommen haben, würde uns jetzt nach ein paar Monaten interessieren, wie Ihre Eindrücke sind.

Gefällt Ihnen das neue Design des Blogs? Haben Sie Vorschläge, was sich daran verbessern läßt? Finden Sie die neuen Inhalte zu interkulturellen und islamwissenschaftlichen Themen interessant? Würden Sie gern mehr über bestimmte Themen lesen?

Um das herauszufinden, habe ich eine kleine Umfrage erstellt. Nehmen Sie doch kurz daran teil! Kostet Sie höchstens fünf Minuten, und hilft uns, uns mehr nach Ihren Bedürfnissen zu richten.

Hier geht’s zur Umfrage:

[polldaddy poll=9629532]

Wie geht es 2017 voraussichtlich weiter? Pläne haben wir viele. Hier ein paar Beispiele:

Zunächst plane ich neue E-Books zu den Themen Seldschuken (Nezâm ol-Molk) sowie Witze und Humor. Vielleicht wird es mein Beyhaqî-Buch aufgrund mehrfacher Nachfrage in Zukunft auch in einer zweiten Auflage als Papierbuch geben. Wenn ich den Eindruck habe, daß das eine gute Idee ist, werden die neuen Bücher vielleicht gleich in beiden Varianten herauskommen.

Zusammen werden Claudia Preckel und ich vielleicht ein Buch zu den Moguln zusammenstellen.

Grundsätzlich haben wir uns überlegt, daß es schön wäre, Serien und thematisch verwandte Beiträge immer mal wieder zu einem E-Book (und vielleicht parallel zu einem Papierbuch) zusammenzufassen. Dann stehen sie Ihnen auch offline und vor allem dauerhaft zur Verfügung. Natürlich werden auch ein paar Extras enthalten sein, die über die Bloginhalte hinausgehen.

Auf dem YouTube-Kanal des Blogs möchte ich weitere Videos erstellen und damit das Angebot der „Persophonie“ auch inhaltlich erweitern. Es soll also nicht nur weiterhin um historische Themen und interkulturelle Kompetenz gehen, sondern auch um praktische Kenntnisse wie zum Beispiel das arabisch-persische Alphabet. Ich möchte testen, was sich mit dem Medium Video machen läßt und wie das bei Ihnen ankommt.

Natürlich wollen wir auch weiterhin neue Besucher auf unseren Blog locken und uns dafür etwas intensiver damit beschäftigen, was man tun muß, um gefunden zu werden.

Außerdem denken wir über einen Newsletter nach, der alle treuen Leser mit zusätzlichen Inhalten belohnt, die bisher auf dem Blog fehlen, zum Beispiel Buchbesprechungen und andere Tips.

Schließlich habe ich mir vorgenommen, dieses Jahr endlich das wichtige Thema Dichtung stärker zu berücksichtigen. Für den berühmten Dichter Hâfez (Hafis) habe ich auch schon letztes Jahr einen Gastautor angesprochen, der tatsächlich demnächst etwas liefern wird. Ach ja, zum Mehrgân-Fest möchte ich dieses Jahr auch den schon längst geplanten Beitrag schreiben.

Sie können sich also auf neue Themen ebenso wie auf neue Entwicklungen und Angebote rund um den Blog freuen.

Bis zum nächsten Beitrag wünsche ich Ihnen aber erst einmal alles Gute für das Jahr 2017!

Wenn Ihnen der Beitrag gefallen hat, können Sie diesen Blog unterstützen durch: Liken, Bewerten, Teilen oder durch eine PayPal- oder Flattr-Spende. Facebook- und Twitter-Buttons kann ich leider aus rechtlichen Gründen nicht einbinden. Sie können mir aber auf Facebook und Twitter folgen: Facebook: https://www.facebook.com/persophoniekulturgeschichtewordpresscom-694581900616159/ und Twitter: @PersophonieKuGe (s. auch die neue Twitter-Timeline im linken Menü).


Donate Button with Credit Cards

Interkulturell: Das Zeitverständnis in islamischen Gesellschaften (Neujahr 2017)

Zunächst einmal wünschen meine Kollegin Susanne Kurz und ich Ihnen ein Frohes Neues Jahr 2017!

Wie vielleicht viele von Ihnen verwende  auch ich ständig Formulierungen  wie „die Zeit rennt“ „je älter man wird, desto schneller scheint die Zeit zu vergehen“ oder „das Jahr ist wieder wie im Flug vergangen“. Zeitmangel scheint ein gängiges Phänomen unserer Gesellschaft zu sein, Ratgeber zum Thema Zeitmangement füllen die Regale in Bibliotheken und Buchhandlungen.

„Ihr habt die Uhren, wir haben die Zeit“

Dieses Sprichwort wird häufig den Arabern zugeschrieben, einige meinen, dass es seinen Ursprung in Indien habe. Besuchern von islamisch geprägten Ländern oder Indiens scheint es so zu sein „als ob die Uhren dort langsamer ticken“ und das Leben tatsächlich nicht so hektisch (wie in Deutschland ) verläuft.

Der Tag in islamischen Gesellschaften ist zweifelsohne durch das fünfmalige Ritualgebet (salât) geprägt. In der globalisierten Welt gibt es natürlich auch andere Zeiteinteilungen (z.B. Schichtarbeit, Schulstunden), die oftmals mit den Gebetszeiten in Konflikt stehen – doch dieses ist ein anderes Thema, das einmal gesondert behandelt werden sollte.

Monochrones  vs. polychrones Zeitverständnis

Der Anthropologe Edward T. Hall (st. 2009) zählte Deutschland wie die meisten „westlichen“ Länder zu den  monochronen Gesellschaften: hier werden Aufgaben nach bestimmten Zeitplänen abgearbeitet, die vorher erstellt wurden. Arbeitsschritte werden nacheinander absolviert, ein Arbeitsschritt folgt dem anderen. Dieses ist in polychronen Gesellschaften anders: Projektpläne sind häufig nicht verbindlich, die Reihenfolge der Arbeitsschritte kann sich ständig ändern. Dazu kommt, dass nicht das Projekt und die Einhaltung von (Zeit-)plänen im Mittelpunkt stehen, sondern die Beziehung zum Geschäftspartner.

Im Umgang mit arabischen Bekannten und (Geschäfts-)Partnern empfehle ich also folgendes:

  • Wenn Sie z.B. zu einer Messe fahren, nehmen Sie sich ein (besser: zwei) Tage vorher und nachher Zeit und planen Sie nicht zu knapp. Nach der Messe werden die Geschäfte gemacht!
  • Im Unterschied zu Deutschland gilt es nicht als unhöflich, wenn man während eines persönlichen Gespräches auch noch telefoniert.
  • Wundern Sie sich nicht, wenn Pläne sich ständig ändern – bleiben Sie flexibel!
  • Sagen Sie niemals, dass Sie für Ihren Geschäftspartner/ Bekannten keine Zeit haben. Dieses gilt als extrem unhöflich!

Nehmen Sie doch einfach einmal zwischendurch Zeit und stellen Sie auch Ihre persönlichen Beziehungen zu Ihren Mitmenschen in den Mittelpunkt!

Susanne Kurz und ich freuen uns auch, wenn Sie sich die Zeit nehmen und noch einige Beiträge aus den TOP 10 des Jahres 2016 lesen, z.B.

Susannes Beitrag zu Flüchtlingen und dem Kulturschock

und natürlich viele weitere Beiträge zu Humor, dem Mogulreich und Interkultureller Kompetenz!

Viel Freude dabei wünschen

Ihre Claudia Preckel und Susanne Kurz!

Das Beitragsbild zeigt eine Persische Wasseruhr:

Nachweis: „Ancient water clock used in qanat of gonabad 2500 years ago“ -This file is licensed under the Creative Commons Attribution-Share Alike 3.0 Unported license.

 

 

 

 

 

Jesus: Bilder aus der Islamischen Welt (Weihnachtsspecial 2016)

Kurz vor Weihnachten 2016 schlug die Diskussion um ein Verbot der Weihnachtsfeier  an einer deutschen Auslandsschule in Istanbul hohe Wellen. In verschiedenen islamischen Gesellschaften ist zu unterschiedlichen Zeiten immer wieder darüber debattiert worden, wie mit dem christlichen Weihnachtsfest umzugehen sei: Ist es erlaubt, mit Christen Weihnachten zu feiern? Darf man Christen „Frohe Weihnachten“ wünschen?

Jesus als Prophet im Islam

Eines ist jedoch klar: niemals würde ein Muslim negativ über Jesus sprechen, denn Jesus gilt den Muslimen als Prophet. Ich hatte  ja bereits in meinem Beitrag zum Thema Ostern darauf hingewiesen, dass im Koran Kreuzigung und Wiederauferstehung Jesu‘ negiert werden.  Es gibt jedoch auch Gemeinsamkeiten zwischen Christentum und Islam. In Sure 19 wird die Geburt Jesu (Îsâ)  durch die Jungfrau Maria (Maryam) geschildert. Die Jungfrauengeburt ist also auch im Islam völlig unstrittig.

Jesus und seine Darstellung am Mogulhof

In Indien waren die muslimischen Herrscher des Mogulreiches von Jesus fasziniert: sein Leben ließ und lässt sich sehr gut mit dem Leben indischer (muslimischer) Heiliger und Asketen, also mit den Sufis, vergleichen. Die Missionierung der Jesuiten am Mogulhof im 16. Jahrhundert verlief ja zum Teil sogar erfolgreich, da einige Mogulprinzen kurzfristig zum Christentum konvertierten.

Besonders eindrucksvoll ließ und lässt sich der christliche Einfluss in der Malerei des Mogulhofes nachweisen: hier schweben Engel und Putten auf der Leinwand, die Herrscher lassen sich auf Portraits mit Gloriolen oder Aureolen abbilden. Sehr eindrucksvoll ist auch das Doppelportraits des Mogulherrschers Dschahângîr und Jesu, gemalt ca. 1610-1620 vom berühmten Maler Hâschim.

256px-thumbnail

Quelle: Wikimedia Commons, Hashim and Abu’l Hasan. Jahangir and Jesus. Jahangir by Hashim c. 1615-1620. Jesus by Abu’l-Hasan, c. 1610-1620. Chester Beatty Library, Dublin. (http://www.cbl.ie/)

Sehr eindrucksvoll ist das ebenfalls aus der Zeit Dschahângîrs stammende Bild „Mutter mit Kind und weißer Katze“, das europäischen Darstellungen von Maria mit dem Jesuskind gleicht, aber von Manohar (aktiv 1582-1624), dem vielleicht berühmtesten Mogulmaler, stammt – übrigens einem Hindu.

Die Faszination Jesu im multireligiösen Indien ist und bleibt sehr groß – einige meiner indischen Freunde verweisen auf die Bedeutung von Weihnachten auch im Koran:

Heil sei über mir  (i.e. Jesu) am Tag, an dem ich geboren wurde…. (Sure 19, Vers 33)

Ich persönlich freue mich immer sehr über die Weihnachtswünsche meiner indo-muslimischen Freunde (natürlich auch der anderen Muslime weltweit).

In diesem Sinne wünsche ich allen noch eine gesegnete Weihnacht!

Ihre

Claudia Preckel

Dr. Claudia Preckel (claudia.preckel (at) islam-consult.de)

Nachweis des Beitragsbildes: Hierbei handelt es sich um eine  Alte Persische Miniatur, Public Domain.

Weisheiten aus dem alten Persien: Schon Hâfez gab den Rat „Nimm’s leicht!“

Als ich zum ersten Mal dieses Zitat aus einer der Ghaselen des persischen Dichters Hâfez (Hafis, st. ca. 1390) hörte, fand ich es total unfair:

Goft âsân gîr bar chod kâr-hâ k-az rû-ye tab‘
Sacht mî-gîrad dschahân bar mardomân-e sacht-kûsch

گفت آسان گیر بر خود کارها کز روی طبع
سخت می گیرد جهان بر مردمان سخت کوش

Zu deutsch:

Er sagte: Nimm die Dinge leicht, denn von Natur aus/
Macht die Welt es den Menschen schwer, die sich schwer abmühen

Warum ich das unfair fand? – Nun, ich war der Überzeugung, man müsse sich anstrengen, wenn man etwas erreichen wolle. So hatte ich es gelernt. Daher war Anstrengung, war Mühe für mich etwas Verdienstliches. Wer sich Mühe gab, sich vielleicht sogar abmühte, wer es sich eben nicht leicht machte und sich mächtig anstrengte, der sollte eine Belohnung bekommen und nicht noch bestraft werden!

Damals war ich Anfang zwanzig und hatte natürlich nicht richtig aufgepaßt. Aber dazu komme ich gleich noch. Jedenfalls gehörte ich nicht zu den Menschen, die alles leicht nahmen und sich nicht anstrengen wollten. Denn das hielt ich für die falsche Methode, wenn man ein Ziel erreichen wollte – und das wollte ich.

Wie ich den Vers verstehen lernte

Dabei fiel mir vieles leicht. Sprachenlernen, zum Beispiel. Lesen auch. Und Schreiben. Außerdem fiel es mir leicht, mich ausdauernd und konzentriert mit Dingen zu beschäftigen, die mich interessierten oder sogar faszinierten.

Deshalb ist mir mein gesamtes Studium leichtgefallen: Weil ich ein Fach gewählt hatte, dessen Inhalte mich faszinierten und in dem man Dinge lernen mußte, die zu lernen mir leichtfiel. Natürlich habe ich mich oft anstrengen müssen, aber ich habe das nie als mühsam oder lästig empfunden. Daher fiel mir auch die Anstrengung leicht.

Nie wäre ich auf die Idee gekommen, Mathematik zu studieren oder Feinmechaniker zu werden. Es wäre doch dumm gewesen, einen Berufsweg zu wählen, der mir schwerfiele. Fand ich jedenfalls ganz selbstverständlich, ohne je bewußt darüber nachzudenken.

Hâfeziyye - Hâfezgrabmal in Schiras 1999 (eigenes Foto aus meiner unbeschwerten Studienzeit)

Hâfeziyye – Hâfez-Grabmal in Schiras 1999 (eigenes Foto aus meiner unbeschwerten Studienzeit)

Auch später habe ich die Erfahrung gemacht, daß mir immer das am leichtesten gelang, ja manchmal geradezu in den Schoß fiel, was ich eben nicht mit besonderer Anstrengung angestrebt hatte.

Das gilt für jede einzelne anspruchsvollere Arbeitsstelle, die ich bisher hatte. So unterschiedlich die Wege dahin waren, gab es doch eine Gemeinsamkeit: Ich hatte mich nicht darauf versteift, diese Stelle unbedingt haben zu müssen.

Auch bei der Wohnungssuche hat das funktioniert, und zwar wie aus dem Handbuch. So als hätten wir nur entspannt die Hand ausgestreckt, um uns die gewünschte Wohnung zu „pflücken“: Kurze Suche im Internet, Angebot sehen, Termin vereinbaren, einfach mal unverbindlich besichtigen – und bingo! Diese Wohnung sollte es sein. Und wurde es dann auch. Alles ohne große Anstrengung.

Dagegen funktionierte vieles nicht, was ich mit Willenskraft herbeizuzwingen versuchte, wofür ich viel Energie aufwendete und worin ich mich verbiß: Doktorandenstipendien, zum Beispiel,  die ich unbedingt zu brauchen glaubte, oder Arbeitsstellen, die ich zum jeweiligen Zeitpunkt dringend haben wollte.

Im Rückblick kommt es mir manchmal vor, als hätte besonders großer Energieaufwand, also heftiges Bemühen, eher zu Blockaden geführt als zum gewünschten Ergebnis. Nur ist mir das erst vor wenigen Jahren im Rückblick aufgegangen. Das geschah beim Nachdenken darüber, wie frühere Erfolge beim Auffinden eines Lebensunterhalts zu wiederholen wären.

Zurück zu Hâfez!

Irgendwann in diesem Prozeß klickte es, und mir fiel auf, daß Lockerlassen immer am besten funktioniert hatte. Und damit sind wir zurück bei dem Vers des Hâfez:

Er sagte: Nimm die Dinge leicht, denn von Natur aus/
Macht die Welt es den Menschen schwer, die sich schwer abmühen

Der hier zitierte „er“ wird übrigens als verständiger Mensch mit Sachkenntnis eingeführt, der diese Mahnung als geheime Weisheit weitergibt. Aber was sagt er eigentlich? Nicht das, was ich lange Zeit intuitiv verstanden habe.

Er sagt nämlich nicht, daß Mühe und Anstrengung schlecht seien oder daß irgendeine Instanz dieses eigentlich löbliche Verhalten bestrafe, statt es zu belohnen.  Es geht überhaupt nicht darum, daß jemand brav tut, was die Gesellschaft von ihm erwartet (nämlich sich anstrengen), und dafür durch besondere Härten des Lebens bestraft wird. Es ist auch keine Aufforderung zu Leichtsinn oder Faulheit.

Der zitierte und der vorhergehende Vers in einer Schmuckausgabe des Dîvâns

Der zitierte und der vorhergehende Vers in einer Schmuckausgabe des Dîvâns

Hâfez artikuliert in diesem Vers vielmehr genau das, was ich mit der Zeit selbst erfahren und im Rückblick wie eine Art Mechanismus empfunden habe: Daß nämlich eine verbissene innere Haltung, ein krampfhaftes Abmühen oft nicht zum Ziel führt. Wenn es dumm läuft, kommt sogar das Gegenteil heraus.

Hâfez sagt ja „von Natur aus“ macht die Welt es denen schwer, die sich heftig abmühen. Das ist kein Urteil über die Anstrengung, sondern die Formulierung einer Art Lebensregel. Diesen Aspekt hatte ich damals übersehen, als ich diesen Vers so unfair fand.

Mit anderen Worten heißt diese Regel: Je mehr Druck du machst und je verbissener und verkrampfter du bist, desto weniger gelingt dir und desto schwerer wird dir das Leben erscheinen. Lockerlassen heißt also die Devise! Oder eben: „Nimm’s nicht so schwer!“

Und wie macht man das?

Das ist allerdings leichter gesagt als getan – vor allem, wenn man einmal damit angefangen hat, sich von existentiellen Ängsten beherrschen zu lassen.

Deshalb bin ich seit längerem auf der Suche nach Methoden, wie sich die lockere Haltung, die ich in meiner eigenen Vergangenheit als so erfolgreich erlebt habe, bewußt herstellen läßt. Vor allem in Lebensbereichen, in denen ich gerade nicht (mehr) so locker bin.

Tatsächlich glaube ich mittlerweile, daß sich das mit der Zeit erreichen läßt. Aber es dauert, denn dazu muß man tiefsitzende Denkgewohnheiten aufbrechen und sich mit den eigenen Ängsten und Gefühlen beschäftigen. Und damit, wie man sie ganz langsam verändern kann. Sanft und locker, ohne Druck.

Ich mache zur Zeit zwei kleine Übungen, um insgesamt gelassener und entspannter zu werden:

  1. Wenn ich dabei bin, mich über etwas aufzuregen, das ich sowieso nicht ändern kann, versuche ich ans Lockerlassen zu denken. Ich sage mir dann: „Laß los! Es ist, wie es ist.“
  2. Um darin besser zu werden, lasse ich mehrmals am Tag kurz ganz bewußt los. Das heißt, ich schließe für einen Moment die Augen, entspanne bewußt alle Muskeln (vor allem im Gesicht!) und sage mir „Loslassen! Jetzt gerade ist alles egal.“ Sobald ich das Gefühl habe, daß es geklappt hat, mache ich die Augen wieder auf und weiter mit dem, was gerade ansteht.

Einen netten Beitrag zum Thema „Weniger anstrengen“ finden Sie auch auf meiner neuen Lieblingsseite für den Start in den Tag.

Bei meiner Suche nach geeigneten Techniken und Übungen ist mir aufgefallen, daß die dahinterstehenden Ideen meistens aus dem buddhistischen Denken oder der altindischen Philosophie stammen.

Doch nach einiger Zeit habe ich festgestellt, daß viele dieser hilfreichen Gedanken auch den Weisheiten entsprechen, die persische Dichter in Poesie gegossen haben.

Seite mit der ganzen Ghasele aus einer Schmuckausgabe des Dîvâns

Seite mit der ganzen Ghasele aus einer Schmuckausgabe des Dîvâns

Chronologisch dürfte die persische Dichtung zwar in der Regel jünger sein. Aber dafür hat sie eine besonders ansprechende Form gefunden, uns alte Weisheiten mitzuteilen, die auch modernen Menschen helfen können. Dabei, die Welt besser zu verstehen, und dabei, das Leben zu bewältigen.

Wenn Ihnen dieser Beitrag gefallen hat, dann werde ich in Zukunft weitere solcher Perlen mit Ihnen teilen, wann immer ich sie finde.

P.S.:

Zu Hâfez bekommen Sie auch noch irgendwann einen eigenen Beitrag. Mindestens einen. Das lohnt sich nämlich aus mehreren Gründen.

Quelle

Châdsche Schams ed-Dîn Mohammad: Dîvân-e Hâfez. Bd. 1: „Ghazaliyyât“. Hrsg. v. Parvîz Nâtel Chânlarî (Parviz Natel Khanlari). Tehrân: Chârazmî (Khwarazmi), 1362 sch./1983. Ghasel Nr. 281, S. 578f.

Bildnachweis

Beitragsbild: Erster Vers aus dem Dîvân des Hâfez
Quelle: Wikimedia Commons
Urheber: de:Benutzer:Der Kumpel vom Bashi Reloaded
Lizenz: Creative Commons 3.0
unverändert übernommen

Bild der Hâfeziyye in Schiras:
eigenes Bild

Auszüge aus einer Schmuckausgabe des Dîvâns:
eigene Bilder

Wenn Ihnen der Beitrag gefallen hat, können Sie diesen Blog unterstützen durch: Liken, Bewerten, Teilen oder durch eine PayPal- oder Flattr-Spende. Facebook- und Twitter-Buttons kann ich leider aus rechtlichen Gründen nicht einbinden. Sie können mir aber auf Facebook und Twitter folgen: Facebook: https://www.facebook.com/persophoniekulturgeschichtewordpresscom-694581900616159/ und Twitter: @PersophonieKuGe.

Donate Button with Credit Cards

Interkulturell: Geschenke

Dinge verschenken und Geschenke bekommen ist natürlich eine der schönsten Dinge an Weihnachten. Vor allem, wenn man selber Freude beim Be-Schenken hat, macht Weihnachten noch mehr Spaß.

In der arabischen Welt gibt es viele Christen, die das Weihnachtsfest feiern, doch

Gibt es auch eine „Islamische Etikette“ beim Schenken?

Folgende wichtige Regeln sollten Sie beachten:

Wenn Sie z.B. bei einer Geschäftsreise in die arabische Welt eine Einladung erhalten, bringen Sie auf jeden Fall ein Gastgeschenk mit. Besonders freut man sich über eine Spezialität aus Deutschland bzw. Ihrer Region. Aber Vorsicht: der Wein aus Rheinhessen bzw. der Westfälische Knochenschinken bzw. andere Spezialitäten aus Schweinefleisch eignen sich bei muslimischen Gastgebern NICHT als Gastgeschenk. Wenn Sie Süßigkeiten und Pralinen verschenken, achten Sie ebenfalls darauf, dass diese keinen Alkohol enthalten. Sollten Sie Ihren Geschäftspartner später einmal besser kennen lernen, kann es sein, dass dieser Ihnen signalisiert, dass er manchmal doch Alkohol konsumiert. Aber gehen Sie eben nicht von vorne herein davon aus!

In vielen Familien kann es vorkommen, dass Sie als männlicher Gast die Gastgeberin bzw. die älteren Töchter nicht kennen lernen – in diesem Fall ist schön, wenn Sie eine große Geschenkbox mit Süßigkeiten, Pralinen oder Keksen mitbringen, von der alle profitieren! Blumen sind als Gastgeschenk (außer bei Hochzeiten) eher unüblich.

Seien Sie nicht enttäuscht, wenn Sie ein größeres, aufwändig verpacktes Geschenk mitbringen und dieses nicht vor Ihnen ausgepackt wird – dieses macht man dann, wenn alle Gäste gegangen sind. Es könnte ja sein, dass dem Beschenkten das Geschenk nicht gefällt – das würde man Ihnen selbstverständlich nicht zeigen! Damit man weiß, dass das Geschenk von Ihnen ist, legen Sie doch Ihre Visitenkarte auf das Geschenk!

Wenn Sie selber ein Geschenk erhalten: legen Sie NIEMALS ein Geschenk auf den Boden, dieses gilt als besonders abwertend! Das haben Sie ja schon in meinem Blogbeitrag über „Schuhe sind unrein“ erfahren und hängt damit zusammen!

Ich wünsche Ihnen viel Freude beim Schenken und Beschenktwerden!

Ihre Dr. Claudia Preckel – claudia@preckel.org

Diesen Artikel habe ich ursprünglich einmal für einen Adventskalender von Angela Hausotter verfasst. Besucht doch auch einmal ihren Youtube-Channel zum Thema „Stimmwirkung“ und vielen anderen spannenden Themen!

Beitragsbild:

English: Beautifully wrapped presents.
Deutsch: Sechs sehr schön verpackte Geschenke.
Date30 September 2012, 11:39:09
Sourcehttp://geschenkhamster.de/geschenke/

This file is licensed under the Creative Commons Attribution-Share Alike 3.0 Unported license.

Interkulturell: Problemlösung auf Indisch

Vor vielen Jahren war ich mit meinem Ehemann in Indien. Es spielt keine Rolle, wo genau und in welchem Hotel. Soviel sei gesagt: es war in Nordindien. 🙂

Wie Ihnen ja bekannt sein dürfte, gibt es in Indien in vielen Häusern (und Hotels) ein Kakerlaken-Problem. Dieses Problem ist völlig unabhängig von der Qualität des Hotels. Häufig kann es einfach nicht verhindert werden, dass die Kakerlaken aus den Abflüssen im Badezimmer kommen. In Indien versucht man, das Problem auf verschiedene Arten zu lösen. Einige Mittel (Zucker & Soda; Neem-Blätter) sind pflanzlich, die meisten jedoch chemischer Natur. Besonders häufig waren damals Naphtalin-Kugeln (Englisch: Naphtalene Balls). Diese Kugeln, die stark nach Teer riechen, wurden auch in Europa früher als Mottenkugeln eingesetzt. Das Wort Naphtalin ist im übrigen vom arabischen Wort für Erdöl, naft, abgeleitet. Naphtalin gilt als umwelt- und gesundheitsschädlich.

Letzteres merkte ich auch in dem besagten indischen Hotel, wo man die Naphtalin-Kugeln SEHR großzügig in das Waschbecken und den Duschabfluss gegeben hatte und zudem noch Insektenspray versprüht hatte – über dessen Zusammensetzung möchte ich mir gar keine Gedanken machen. Ich hustete die halbe Nacht, meine Atemwege waren wohl sehr gereizt.

Als mein Mann und ich am nächsten Morgen das Hotel verließen, war das Service-Personal schon mit Reinigungsarbeiten beschäftigt. Wir sprachen die beiden also an, und sie nickten fleißig, als wir uns auf „No spray, no balls“ geeinigt hatten.

Dachten wir.

Als wir später ins Hotel zurückkehrten, erwartete uns das Reinigungspersonal strahlend mit „No spray, no balls“. Was hatte man gemacht? Man hatte die Naphtalin-Kugeln mühsam in kleine Stücke zerteilt und diese Stücke auf die Abflüsse getan.

Aber es stimmte:

No spray, no balls!

Problemlösung auf Indisch halt!

Fazit:

  • Viele Konflikte, nicht nur im interkulturellen Kontext, entstehen aus unterschiedlichen Erwartungen. Denken und überdenken Sie regelmäßig Ihre Erwartungen. Wie weit sind Sie bereit, von Ihren Erwartungen abzurücken? Welche Erwartungen könnte Ihr Gegenüber haben?
  • Sehen Sie einen gemeinsamen Nenner bzw. einen Kompromiss?
  • Rechnen Sie  zum einen nicht damit, dass in interkulturellen Kontexten dieselben Dinge als Problem gesehen werden, die Sie selbst als Problem ansehen.
  • Rechnen Sie nicht damit, dass Probleme auf Ihre Art gelöst werden.
  • Nehmen Sie zur Kenntnis, dass man Ihr Problem lösen wollte! Diese Tatsache sollte Ihnen schon ein Lob wert sein.

In diesem Fall habe ich mich mit den Naphtalin Kugeln (bzw. Nicht-Kugeln) arrangiert, denn ich empfand die Vorstellung, mein Zimmer mit Kakerlaken zu teilen, als NOCH schlimmer. Sollten Sie allerdings wirkliche gesundheitliche Probleme haben, empfehle ich Ihnen nochmals, die Tipps von der o.g. Website auszuprobieren.

Weisheiten aus dem alten Persien: Trost für schwere Zeiten

Heute möchte ich eine Bozorgmehr-Anekdote mit Ihnen teilen, die mir kürzlich bei der Lektüre eines Blogposts über das „Loslassen“ eingefallen ist. (Dabei geht es darum, mehr innere Ruhe zu gewinnen und sich das Leben zu erleichtern, indem man nicht nutzlos gegen Unabänderliches ankämpft.)

Bozorgmehr soll der Wesir des Sassanidenherrschers Chosrou I. Anûschîrvân (reg. 531-578) gewesen sein, und er ist für seine besondere Weisheit bekannt.

Dieser Sassanide ist in der arabischen und neupersischen Literatur islamischer Zeit als „Anûschîrvân der Gerechte“ bekannt, und es kreisen viele legendenhafte Anekdoten um ihn. Dasselbe gilt auch für Bozorgmehr .

Man weiß bis heute noch nicht einmal sicher, welche historisch verbürgte Persönlichkeit sich hinter dem Namen „Bozorgmehr“ verbirgt. Es gibt aber begründete Vermutungen. Immerhin gehen die Forscher also davon aus, daß er wirklich existiert hat.

Doch kommen wir zu der Anekdote, die Ihnen vielleicht Trost in schweren Zeiten vermitteln kann – oder Sie in guten Zeiten vor Übermut bewahren könnte. Ich habe diese Anekdote vor Jahren irgendwann irgendwo gelesen. Präziser kann ich das leider nicht rekonstruieren. Aber das sollte die Wirkung nicht beeinträchtigen:

Der König forderte seine weisen Ratgeber dazu auf, ihm einen Siegelring mit einer Gravur anfertigen zu lassen. Sie sollte ihn, wenn er traurig wäre, fröhlich machen, und wenn er fröhlich wäre, traurig. Bozorgmehr meisterte die Aufgabe und brachte dem König einen Ring, auf dessen Siegelstein eingraviert war:

„Auch dieses geht vorüber.“

Wenn es Ihnen schlecht geht, dann versuchen Sie es doch einmal damit, sich das zu sagen. Vor allem in schwierigen Lebenssituationen kann das ziemlich tröstlich sein. Finde ich jedenfalls.

Falls Sie die Seite besuchen möchten, die mich zu diesem Beitrag inspiriert hat, schauen Sie mal hier: myMONK. Mir gefallen viele Beiträge dort sehr gut, und einiges läßt sich auch leicht praktisch anwenden.

Aber in diesem speziellen Fall finde ich die Formulierung aus der Bozorgmehr-Anekdote griffiger (im Vergleich zu Nr. 2 im myMONK-Beitrag). Vielleicht liegt das aber auch an der Verknüpfung mit der Anekdote oder einfach an mir. Was meinen Sie?

Bildnachweis

Beitragsbild Burzoe oder Bozorgmehr (Angaben widersprüchlich):
Quelle: Wikimedia Commons
Inhaber der Urheberrechte: English Wikipedia user Ipaat
Urheberin: Evgenia Kononova
Lizenz: Creative Commons 3.0
Änderung: zugeschnitten

Wenn Ihnen der Beitrag gefallen hat, können Sie diesen Blog unterstützen durch: Liken, Bewerten, Teilen oder durch eine PayPal- oder Flattr-Spende. Facebook- und Twitter-Buttons kann ich leider aus rechtlichen Gründen nicht einbinden. Sie können mir aber auf Facebook und Twitter folgen: Facebook: https://www.facebook.com/persophoniekulturgeschichtewordpresscom-694581900616159/ und Twitter: @PersophonieKuGe.

Donate Button with Credit Cards

Interkulturell: Tod und Trauer im Islam, II

Im ersten Teil dieser kleinen Serie hatte ich bereits darauf hingewiesen, dass das Thema Tod und Trauer im Islam auch in Deutschland an Bedeutung gewinnen wird. Für muslimische Verbände stellte sich die Frage nach der muslimischen Bestattung in Deutschland schon in den 1960ern Jahren. In diesem Teil der kleinen Serie zu Tod und Trauer im Islam soll es um die Bestattung und die damit verbundenen Fragen der Sargpflicht und der islamischen Grabfelder bzw. Friedhöfe in Deutschland gehen.

Die Muslimische Bestattung

Im letzten Beitrag war ja schon die Rede davon, dass eine islamische Bestattung möglichst umgehend nach Eintreten des Todes erfolgen sollte. Das ist dem in muslimischen Ländern zumeist vorherrschenden Klima geschuldet, hat aber auch den theologischen Grund, dass die Seele vom Todesengel zu einem Zwischengericht im Himmel geführt wird, um dann wieder zum Körper ins Grab zurückzukehren.

Die muslimischen Vorstellungen von der Bestattung sind im Wesentlichen durch die Aussprüche vom und über den Propheten Muhammad geprägt, der Koran bleibt in dieser Frage unkonkret. Es wird ebenso deutlich, dass hier lokale Traditionen und Bräuche übernommen wurden. Einig sind sich alle muslimischen Rechtsschulen darin, dass eine Erdbestattung vorgeschrieben ist. Hier grenzt sich der Islam deutlich vom Brauch des Verbrennens der Toten im Hinduismus bzw. von der „Himmelsbestattung“ der Zoroastrier bzw. Parsen (Anhänger Zoroasters) ab, die ihre Toten in den „Türmen des Schweigens“ (Dachma) von Geiern oder anderen Vögeln  fressen lassen.

Muslime und die Sargpflicht

Im ersten Beitrag dieser Reihe ist ja bereits vom Leichentuch die Rede gewesen, das dem Verstorbenen nach der Totenwaschung angelegt wird. Traditionell wird der Tote darin bestattet, eine Bestattung im Sarg war und ist unüblich. Dieser Brauch wirkt auf viele Deutsche eher befremdlich, jedoch muss festgestellt werden, dass auch in Deutschland eine Bestattung im Sarg erst seit dem 16. Jahrhundert üblich wurde. In den meisten Ländern Europas gibt es eine Sargpflicht. Einer Bestattung im Sarg steht auch für Muslime nichts im Wege, wenn die folgenden Voraussetzungen erfüllt sind:

  • Der islamische Sarg besteht gemäß den islamischen Riten nur aus Vollholz.
  • Der Sarg darf nicht mit Farbe behandelt werden und muss naturell bleiben.
  • Die oben spitz zulaufende Deckelform ist den Gräbern der islamischen Weisen und Heiligen nachempfunden (so genannten Turbe).
  • Es stilisiert den Zusammenhang zwischen Himmel und Erde.

(Quelle: Ikinci Bahar – Tod und Trauer im Islam (Broschüre) – http://www.ikinci-bahar.de/presse.php)

Die Islamische Akademie für Islamisches Recht in Mekka hat am 29.1.1985 eine fatwâ (Rechtsgutachten) erlassen, dass Muslimen die Bestattung in Vollholzsärgen gestattet sei. Trotz der an vielen Orten Deutschlands aufgehobenen Sargpflicht, der hohen Kosten einer Überführung (ca. 3000 Euro) und der Familie, die häufig dauerhaft in Deutschland leben wird, lässt sich eine Mehrheit der Muslime im Herkunftsland bestatten.

Muslimische Gräberfelder

Dieses liegt in der theologischen Auffassung der Muslime begründet, dass ein Grab ein sogenanntes Ewigkeitsgrab sein muss, das heißt, ein Grab darf auch nach Ablauf einer Ruhefrist von z.B. 30 Jahren nicht wieder belegt werden. Für jüdische Friedhöfe gilt diese Regelung bereits, hier werden Gräber nicht eingeebnet bzw. neu belegt. Eigentlich sieht auch das Christentum eine Ruhezeit bis zum Tag des Jüngsten Gerichts vor. In der Praxis werden in vielen Gemeinden jedoch Gräber nach 30 Jahren eingeebnet.

Auf Betreiben der Ausländerbeiräte oder muslimischer Gemeinschaften wurden in zahlreichen deutschen Städten seit den 1990er Jahren muslimische Gräberfelder ausgewiesen. Mit der Aufhebung der Sargpflicht und der Schaffung muslimischer Grabfelder ist der Anteil von Muslimen, die sich in Deutschland bestatten lassen, angestiegen. Nach Ansicht muslimischer Bestatter ein wichtiger Beitrag zur Integration, denn durch die Bestattung in Deutschland könne Deutschland auch wirklich zur Heimat werden. Es ist davon auszugehen, dass die nachfolgenden Generationen sich mehrheitlich in Deutschland bestatten lassen werden, denn eigentlich soll nach islamischer Überlieferung der Verstorbene auch an dem Ort beigesetzt werden, wo er gestorben ist.

Friedhofskultur und Grabgestaltung

Bei vielen Sunniten, vor allem bei denen, die konservativeren Ausrichtungen folgen, gilt es als „nicht islamisch“, Gräber mit Grabsteinen zu versehen oder anderen Gräberschmuck aufzustellen. In arabischen Ländern sind Friedhöfe häufig völlig verwildert, einzelne Grabstätten lassen sich kaum ausmachen. Diese Praxis ist auch als Kritik am Sufismus zu verstehen, wo der Besuch des Grabes eines „Heiligen“ als wichtiger Bestandteil des islamischen Glaubens gilt. Kritisiert wird jedoch vor allem, am Grab des Sufis Wünsche (z.B. nach der Geburt eines Sohnes oder nach Heilung) zu äußern und das Grab zu dekorieren.

Schaut man sich jedoch auf muslimischen Gräberfeldern in Europa um, stellt man fest, dass sich Grabsteine und Blumenschmuck auch auf muslimischen Gräbern durchgesetzt haben – nur arabische Kalligraphien lassen darauf schließen, dass es sich bei dem Verstorbenen um einen Muslim handelte.

Hier hat offensichtlich eine Angleichung der Bräuche stattgefunden, die ja eigentlich nicht so weit auseinander liegen. Muslimische Verbände werden mit Sicherheit auch in Zukunft die Einrichtung Muslimischer Friedhöfe  wie in Wuppertal fordern. Ob denn separate Friedhöfe – wie sie seit Jahrhunderten von den Religionsgemeinschaften betrieben wurden – oder Gräber vieler unterschiedlicher Relgionen auf einem (kommunalen?) Friedhof Zeichen von Integration oder Segregation sind, wird die zukünftige Diskussion zeigen.

(1) Beitragsbild: „Wiener Zentralfriedhof, Muslimische Gräber“

Creative Commons Attribution ShareAlike 2.5 License, Autor nvsigoth67-

Bei weiterem Interesse am Thema „Islam, Tod und Trauer“ kontaktieren Sie die Autorin Dr. Claudia Preckel unter claudia.preckel (at) islam-consult.de

Wenn Sie bzw. Ihre Firma Beratung im Trauerfall benötigen, kontaktieren Sie

Angela Vogt unter angela.vogt (at) plan-b-usiness.de (Website https://www.plan-b-usiness.de/aktuelles/impressum/)