Der indo-muslimische Mogulkaiser seiner Autobiographie Jahângîr-nâma schrieb der indische Mogulherrscher Jahângîr (regierte von 1605 bis 1627 ) einige Charakterisierungen seiner drei Schwestern. Das alleine ist schon ungewöhnlich, weil in der Mehrheit der indo-muslimischen Quellen die ise der Frauengemächer unerwähnt bleiben. Aber Jahângîr, Sohn des Mogulkaisers Akbar, war als ungewöhnlicher Mensch bekannt, der viele Beobachtungen von Natur und Menschen in seiner Umgebung machte. Was sagte Jahângîr denn genau über seine Schwestern?
Akbars Töchter- Jahângîrs Schwestern
In einem anderen Beitrag habe ich schon einmal etwas über die Töchter des erfolgreichsten Mogulkaisers Akbar (regierte 1556-1605) geschrieben. Akbar, so heißt es, habe die Heirat seiner Töchter verhindert, um für seine Söhne keine Konkurrenz durch eventuelle Schwiegersöhne zu bekommen. Dass Akbars Töchter unverheiratet blieben, konnte ich nicht bestätigen.
Kommen wir noch zu einer Frage, die ich bisher nicht beantworten kann: Wie viele Töchter hatte Akbar? Wie gesagt: die Antwort ist nicht einfach. Akbar hatte neben seinen drei Hauptfrauen Maryam u-Zamânî (Jodha), Ruqaiya Begum und Salîma Sultân Begum, mit denen er nach islamischem Recht verheiratet (nikâh) war, zahlreiche Ehefrauen, die er über die islamische „Zeitehe“ geheiratet hatte. Daneben gab es noch eine unbekannte Anzahl von Konkubinen und Frauen im Harem, mit denen der Herrscher (wahrscheinlich) eine sexuelle Beziehung hatte. Wie viele Kinder Akbar insgesamt hatte, wissen wir nicht.
Nicht alle Kinder wurden in Akbars Memoiren beziehungsweise in denen von Jahângîr erwähnt. Genannt wurden vor allem die Kinder, die im Umfeld des Herrschers aufwuchsen, und die von ihm erzogen wurden. Genannt wurden seine Söhne, die später einflussreiche Positionen erhielten und seine Töchter, die mit Mitgliedern der Mogulelite verheiratet wurden.
Es darf natürlich nicht verschwiegen werden, dass es im 16. Jahrhundert eine hohe Säuglingssterblichkeit gab, obwohl es ja am Mogulhof schon vergleichsweise eine gute Versorgung von Kindern mit Nahrung und ärztlichen behandlungen gab.
So erwähnt Jahângîr zunächst eine Schwester von Bîbî Pangrâi, die Fatma Bâno Begum genannt wurde. Sie starb allerdings schon im Alter von einem Jahr. Meetî Begum, eine Tochter von Mehr Sîmâ, wurde nur acht Monate alt. Eine weitere Tochter, Lâla Begum, starb ebenfalls mit 18 Monaten (Memoirs, 46).
Jahângîr schreibt auch über weitere sehr früh verstorbene Kinder Akbars, doch das soll hier nicht weiter diskutiert werden. Drei seiner Schwestern erwähnt er jedoch besonders.
Shâhzâdî Sultân Khan
Von seinen bis ins Erwachsenenalter überlebenden Schwestern nennt Jahângir Shâhzâdî Sultân Khânum (1569-1603). Sie wurde nur drei Monate nach ihm selbst geboren. Ihre Mutter war eine Konkubine namens Bîbî Salîma. Shâhzâdî Sultân Khânums Betreuung und Erziehung wurde von Akbars Mutter Hamîda Bâno Begum übernommen. So hatte sie, obwohl sie die Tochter einer Konkubine war, Zugang zu den höchsten Kreisen des Hofes. Als Shâhzâdî Sultân Khânûm 25 Jahre alt war, wurde sie mit Mîrzâ Muzaffar Hussain Safavî verheiratet. Dieser war ein persischer Prinz aus der Familie der Safawiden, mit denen das Mogulreich eng verbunden war. Um die afghanische Stadt Kandahar gab es jedoch Konflikte zwischen den Persern und dem Mogulreich. Mîrzâ Muzaffar Hussain Safavî verlor Kandahar an Akbar, musste Kandahar verlassen und ließ sich im Mogulhof nieder. Er erhielt er mehrere einflussreiche Positionen am Mogulhof und wurde sogar zu Akbars Schwiegersohn. Später heiratete Jahângîr sogar Muzaffars Schwester Nûr un-Nisâ‘. Über Shâhzâdî Khânums Leben als Ehefrau erfahren wir nichts mehr. Lediglich, dass sie Im Alter von etwa 34 Jahren an den Folgen der Ruhr starb, ist noch bekannt.
Jahângîrs Bild von ihr ist etwas zwiespältig. Er schrieb über si (Memoirs, 46), dass sie zwar
„in Bezug auf Integrität, Wahrheit, Loyaliät und dem Streben nach meinem Wohlergehen unter meinen Schwestern ihresgleichen sucht. Allerdings verbringt sie den aber den größten Teil ihrer Zeit damit, ihren Schöpfer zu verehren“
Jahângîr hatte selbst ein etwas anderes, ein unorthodoxes Verständnis vom Islam und sah sich nicht als ein Gläubiger, der den ganzen Tag in Gebet und Gottesgedenken verbrachte – doch das ist auch einen weiteren Blogbeitrag wert.
Ârâm Bâno – die Vorlaute
In der oben genannten Beschreibung seiner Schwester Shâhzâdî Khânum schwingt ein wenig Kritik an dem Verhalten seiner ältesten Schwester mit. Noch kritischer betrachtete Jahângîr seine jüngste Schwester Ârâm Bâno (geb. 1584, st. 1624). Ârâm Bâno war die jüngere der beiden Töchter von Bîbî Daulat Shâd. Wir erinnern uns: das war die Frau, in die sich Akbar spontan verliebte und ihren Mann zur Scheidung von ihr zwang. Akbar und Daulat Shâd hatten 2 Töchter. Jahângîr beschrieb sie in seinen Memoiren als vorlaut, frech und eitel (Jahangirnama, 39)
Nach einer Weile brachte Bibi Dawlatshad eine Tochter zur Welt, die Aram Banu Begam genannt wurde. Ihr Temperament war von heftigen Stimmungsschwankungen und Heftigkeit geprägt. Mein Vater (i.e. Akbar, C.P.) liebte sie so sehr, dass er geflissentlich über ihre Unhöflichkeiten hinwegsah – und aus seiner Sicht der Dinge, da er sie so sehr liebte, schien sie ja gar nicht so schlimm zu sein. Er sagte häufig zu mir: ‚Baba, mit zuliebe, wenn ich eines Tages nicht mehr unter Euch bin, behandle Deine Schwester, die wie die Inder sagen, mein kleiner Liebling (ladla) ist, so wie ich es immer tue. Dulde ihre Eitelkeit und sieh über ihre Ruppigkeit und Frechheit hinweg.
Es ist anzunehmen, dass die Darstellung von Âram Bâno Begum in der TV-Serie Jodha Akbar auf dem kleinen Abschnitt in Jahângîrs Memoiren beruht. Warum schrieb er aber so negativ über Ârâm Bâno Begum? Jahângîr hatte sich ja im Laufe seines Lebens von seinem Vater Akbar entfremdet und sogar offen gegen ihn rebelliert. Während fast alle wichtigen Frauen des Harem versuchten, für Jahângîr zu vermitteln, stand Ârâm Bâno Begum weiter an der Seite ihres Vaters. Es scheint so, als ob Jahângîr das nicht vergessen hatte.
Ârâm Bâno war übrigens die einzige Tochter Akbars, von der wir nicht wissen, ob sie verheiratet war oder nicht.
Shakr un-Nisâ‘ Begum und die Hexenmilch
Nach Danyals Geburt brachte Bibi Dawlatshad eine Tochter zur Welt, und diese wurde Shakr un-Niisâ‘ Begm genannt. Da sie im Schoß der Fürsorge meines Vaters aufwuchs, entwickelte sie sich sehr gut, gutmütig, und allen Menschen zugeneigt. Seit ihrer frühesten Kindheit war sie mir zugetan. So eine Zuneigung zwischen Bruder und Schwester existiert nur selten.
Dann folgt eine Beschreibung, die ich auf den ersten (und den zweiten) Blick etwas vertörend fand (Jahangirnama, 39) :
Beim ersten Mal, drückten sie wie es Brauch ist, die Brust(warze) meiner Schwester, und ein Tropfen Milch kam heraus. Seine Majestät, mein Vater, sagte zu mir: „Baba, trinke diese Milch, dass deine Schwester wie eine wirkliche Mutter zu dir sein wird.“ Der Allwissende Gott weiß, dass ich von diesem Tag, an dem ich den Tropfen Milch trank, neben der Zuneigung als Schwester und Tochter meines Vaters, denselben Typ von Liebe verspürte wie Kinder für ihre Mütter.
Was Jahângîr hier beschrieb, ist dass er auf Veranlassung seines Vaters die sogenannte Hexenmilch seiner Schwester Shakr un-Nisâ‘ getrunken hat.
Was ist Hexenmilch? – Der Mythos der Hexenmilch
Hexenmilch, auch als Engelsmilch, ist eine Flüssigkeit, die wie Milch aussieht. Sie tritt bei neugeborenen Babys, also sowohl bei Mädchen als auch auch bei Jungen, in den ersten Tagen und Wochen aus den Brustwarzen aus. Dann hört dieser Milchfluss zumeist von selbst auf. Eine mögliche Ursache sind die Schwangerschaftshormone der Mutter verursacht, die während der Schwangerschaft auf das Baby übergehen. Die Brustdrüsen des Babys reagieren auf diese Hormone, was dazu führt, dass die Brust des Babys sich vergrößert und eine kleine Menge Flüssigkeit in den Brustwarzen gebildet wird.
In der europäischen Literatur finden sich verschiedene Überlieferungen, warum Hexenmilch so heißt wie sie heißt: So gibt es zum einen den Aberglauben, dass Frauen, die als „Hexen“ dem Teufel dienten, die Milch der Neugeborenen stehlen und ein „Hexenmal“ auf dem Baby hinterlassen. Damit nicht Hexen oder Kobolde diese Milch stehlen, müsse man die Hexenmilch durch Drücken der Brustwarzen des Babys regelmäßig entfernen.
„Hexenmilch“ in Hindu-Familen
In Indien gibt es vor allem in den Hindu-Familien einen anderen Hintergrund, die Hexenmilch vor allem aus den Brustdrüsen der weiblichen Babys zu entfernen: Man glaubte, dass die „Milch“ zur Vergrößerung des Busens von Mädchen beitrug. Die Entwicklung größerer Brüste vor dem Eintritt der Pubertät galt als unschicklich und als Hindernis für eine (arrangierte) Ehe. Aus diesem Grund ist es in Indien teilweise immer noch Brauch, dem Neugeborenen zwischen dem 7. Lebenstag und der 7. Lebenswoche die Hexenmilch zu entfernen. Für Eltern sind Töchter mit vergrößerter oder asymetrischer Brüste (medizinisch: Gynäkomastie / „Frauenbrüstigkeit“) vor der Pubertät ein Grund für Schamgefühle (Devi et al. 2016).
Einige indische Hebammen und Gynäkologinnen und Gynäkologen stellen jedoch fest, dass es oft gerade die Entfernung der Hexenmilch ist, die eine „kulturelle Frauenbrüstigkeit“ und Entzündungen der Brust hervorruft und fordern eine Abschaffung dieser Praxis (Devi 2016). Sie erachten es für notwendig , dass Hebammen, Mütter und Großmütter so auszubilden, dass sie das Drücken der Brustdrüsen unterlassen.
Hexenmilch: Ein besonderer Bund?
Zurück an den Mogulhof. Deutlich ist jedenfalls, dass auch die Muslime am Mogulhof bei Neugeborenen die Hexenmilch entfernten, denn Jahângîr beschrieb, dass es sich um eine allgemein gültige Praxis handelte. Auch in älteren Schriften über die Mongolen Zentralasiens (von denen die Moguln ja abstammten) ist von dieser Praxis die Rede.
Was ich noch nicht klären konnte, ist die Frage, ob es ungewöhnlich ist, dass Männer bei diesem Ritus anwesend waren. Und natürlich die Frage, ob es ungewöhnlich oder einmalag ist, dass ein Bruder die Hexenmilch seiner Schwester trank.
Fakt ist, dass dadurch auf Veranlassung Akbars ein besonderer Bund zwischen Jahângîr und seiner Schwester Shakr un-Nisâ‘ geschaffen wurde. Akbar war die Bedeutung seiner eigenen „Milchbrüder“ und „Milchschwestern“ sehr bewusst – also von denjenigen, die dieselbe Milch seiner eignen Ammen getrunken haben. Dieses schuf eine besondere Loyalität am Hof mit denjenigen, mit denen man eignentlich biologisch nicht verwandt war.
Die kleine Passage aus den Memoiren Jahângirs über das Verhältnis von Jahângir zu seinen Schwestern wirft also weitere Fragen auf, über die ich sicherlich gerne noch einmal recherchiere.
Literatur: THE JAHANGIRNAMA: Memoirs of Jahangir, Emperor of India/
Translated, edited, and annotated by Wheeler M. Thackston. Oxford: OUP, 1999.
The Memoirs of Emperor Jahangir / translated by David Price. 1829.
Dayal, Devi; Vimlesh Soni; Dhaarani Jayaraman et al.“Cultural gynecomastia in the 21st century India:
“Witch’s milk” revisited“. Pediatria Polska 91, v (September–October) 2016, 472-475.
Bildnachweis:
Das Bild „Royal Mughal Lady“ ist Public Domain und unterliegt der Wikimedia Commons Licence
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Dr. Claudia Preckel ist Islamwissenschaftlerin und publiziert über Mogulgeschichte und die Geschichte der Unani Medicine in Indien. Für Anregungen und Kommentare stehe ich auch unter claudia(at)preckel.org zur Verfügung.