Neulich hat auf meinem Blog eine plötzliche Steigerung der Seitenaufrufe und Kommentare stattgefunden. Auslöser war ein neuer Leser, der sich durch eine Reihe von Beiträgen gearbeitet und diese auch gleich kommentiert hat. An einigen Stellen ergaben sich daraus fruchtbare kleine Diskussionen. Eine davon möchte ich hier aufgreifen: Die Frage nach dem Verbot von Leichensektionen im muslimischen Mittelalter.
Zunächst drehte sich die Diskussion um die Frage, ob die in der medizinischen Literatur beschriebenen Operationen, die wohl selten bis nie praktisch durchgeführt wurden, womöglich durch religiöse Verbote verhindert wurden. (Mehr zum ursprünglichen Thema finden Sie in diesem Beitrag.) Meines Wissens gab es dieses Problem jedoch nicht.
Dagegen hält sich hartnäckig die Auffassung, daß es im Mittelalter sowohl in der christlichen als auch in der islamischen Welt aus religiösen Gründen verboten gewesen sei, Leichen zu sezieren. Dadurch seien die anatomischen Kenntnisse jahrhundertelang nicht vorangekommen. Zur Verbreitung dieser Ansicht hat in letzter Zeit vor allem der “Medicus”-Film beigetragen, den ich bei Gelegenheit noch besprechen möchte.
Nun habe ich mich mit diesem Thema nie intensiv auseinandergesetzt, weil mich der Geschlechtsverkehr zwischen Lebenden mehr interessiert hat als die Frage nach dem angeblichen Verbot von Leichensektionen. 😉 Ich konnte mich aber daran erinnern, hierzu schon mal irgendwo etwas gelesen zu haben.
Erster Verdächtiger war das sehr empfehlenswerte Überblickswerk von Peter Pormann und Emilie Savage-Smith (s.u.). Also habe ich heute dort noch einmal nachgelesen. Wie von einem Überblickswerk von nur etwas über 200 Seiten nicht anders zu erwarten, fällt der diesbezügliche Absatz recht knapp aus. Dafür ist die Aussage umso eindeutiger:
Systematische anatomische Sektionen am Menschen waren ebenso wenig ein Bestreben der mittelalterlichen islamischen Gesellschaft wie im Christentum, obwohl aus den verfügbaren Belegen klar hervorgeht, daß es in keiner der beiden Gesellschaften rechtliche oder religiöse Einschränkungen gab, die sie verboten hätten. (Pormann/Savage-Smith, S. 60; deutsch von mir)
Das Studium der Anatomie sei von vielen Religionsgelehrten sogar gelobt worden, da man auf diesem Wege Gottes Weisheit in der Schöpfung aufzeigen konnte. Allerdings sei mit “Anatomie” in den entsprechenden Zitaten nicht die Sektion von Lebewesen als Weg zur Erkenntnis der Körperstruktur gemeint, sondern die Ausarbeitung der Lehren Galens über Struktur und Funktion der Körperteile.
Wie es scheint, hat Emilie Savage-Smith auch einen eigenen Beitrag von über 40 Seiten Umfang zum Thema anatomische Sektionen verfaßt. Doch da mein Arbeitsschwerpunkt auf anderen Themen liegt, habe ich ihn im Moment nicht vorliegen. Vermutlich kann man dort aber eine ausführlichere Diskussion des Problems “Verbot von Leichensektionen” nachlesen, die anscheinend zu dem oben zitierten Ergebnis geführt hat.
Gelegentlich werde ich mir diesen Aufsatz deshalb besorgen und dann berichten, welche neuen Einzelheiten ich herausgefunden habe. Bis dahin verbleibe ich ausnahmsweise autoritätshörig mit dem Verweis auf die oben zitierte Passage. 😉
P.S.: Für alle, die auf den nächsten E-Book-Auszug warten: Ich wollte meinen Lesern noch etwas Zeit lassen, an der Umfrage teilzunehmen. Von Mittwoch nacht bis Sonntag ist die Frist ein bißchen kurz bemessen, um ein ausreichend breites Meinungsbild einzuholen. Vergessen Sie also nicht, noch kurz abzustimmen! Hier geht’s lang: Umfrage.
Literatur
Peter E. Pormann/Emilie Savage-Smith: Medieval Islamic Medicine. Edinburgh: Edinburgh University Press, 2007. S. 60.
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