Während die Covid-19-Pandemie derzeit in weltweit in immer mehr Ländern Infizierte und Todesopfer fordert, zweifeln gleichzeitig immer mehr Menschen die Gefährlichkeit des Virus sowie die Erkenntnisse der Wissenschaft über Reproduktionsraten bzw. die Letalität („Tödlichkeit“) des Virus SARS-CoV-2 an.
Kritik an der der Wissenschaft?!
Diese Kritik am wissenschaftlichem Arbeiten resultiert häufig aus einer Unkenntnis heraus, wie es funktioniert: der Weg zur Erkenntnis, zur „Wahrheit“ über Infektion, Diagnose und Behandlung einer Krankheit hat viele Umwege und Fehlschläge. Viele Erkenntnisse der heutigen „westlichen“ Medizin, auch Biomedizin oder Schulmedizin genannt, haben sich erst nach jahrhundertelanger Forschung durchgesetzt. Es gehört zum wissenschaftlichen Arbeiten dazu, die eigenen Forschungsergebnisse immer wieder kritisch zu hinterfragen, zu überprüfen und eventuell auch zu korrigieren, wenn sich andere Beobachtungen bzw. Quellen ergeben.
In meinem heutigen Blogbeitrag geht es um Infektionen mit der Pest – mit Sicherheit eine der tödlichsten Krankheiten in der Menschheitsgeschichte. Leider bricht diese Krankheit auch heute immer wieder in Indien aus. Es ist interessant, dass der indo-islamische Mogulherrscher Dschahângîr (st. 1627) in seiner Hauptstadt Agra beim Ausbruch der Pest Infektionswege beobachtete und in seiner Chronik niederschrieb .
Die graeco-islamische Medizin und Infektionen
Bis heute ist in Südasien die graeco-islamische Medizin (Englisch: Unani Medicine, Tibb-e yûnânî) eine der Medizintraditionen, die staatliche Förderung erhalten und neben der „Schulmedizin“ im Alltag etabliert ist. Zur Zeit der Mogulherrscher, also vom 15. bis ins 19. Jahrhundert, war die graeco-arabische Medizin auch das vorherrschende System am Mogulhof. Parallel wurde natürlich auch Ayurveda weiterhin praktiziert. Ihren Ursprung hatte die graeco-islamische Medizin in den Lehren der griechischen und römischen Antike, wie Hippokrates (Buqrât, st. ca. 370 v. Chr.) oder Galen (Dschalînus, st. 129 n. Chr.).
Die graeco-islamische Medizin basiert auf der Annahme, dass es im Körper vier Körpersäfte gibt, die von den Organen Leber, Lunge, Galle und Herz produziert wurden: Gelbe Galle, Schwarze Galle, Blut und Phlegma waren die Körpersäfte. Waren sie im Gleichgewicht, so die Lehre der Unani Medicine, war der Körper gesund. Dementsprechend erklärte man sich das Entstehen von Krankheiten durch einen Überschuss eines Körpersafts im Körper: so sei beispielsweise die Cholera durch einen Überschuss an Gelber Galle verursacht.
Miasma – „üble Ausdünstung“
Es gab aber auch in der Geschichte der graeco-islamischen Medizin Theorien, diejenige vom Ungleichgewicht der Körpersäfte als Infektionsursache als hinausging. Schon Hippokrates hatte in seinen Schriften von Miasmen (Singular: Miasma) üble Ausdünstungen für Krankheiten und Seuchen verantwortlich gemacht. Diese Dämpfe steigen, so Hippokrates, von fauliger Luft und fauligem Wasser auf und sorgten dafür, dass auch die Körpersäfte im Körper „verklebten“ oder sogar „versteinerten“. Diesen Vorstellungen von üblen, schädlichen Dämpfen folgten bereits in der Antike und im Mittelalter Regelungen zur Quarantäne: Kranke wurden von Gesunden getrennt, Leichen von Seuchenkranken vor den Stadtmauern verbrannt. Diese Ideen von Quarantäne wurden sowohl in Europa als auch in islamisch geprägten Kulturen praktiziert, zumal auch Ibn Sînâ, im Westen bekannt als Avicenna (st. 1037) in seinem Werk al-Qânûn fi-t-tibb („Der Kanon der Medizin“) die Notwendigkeit der Quarantäne bei Seuchen beschrieb.
Dieses Werk ist auch in Südasien für die graeco-islamische Medizin ein wichtiges Grundlagenwerk.
Bakterien als Ursache der Infektion
Die Theorien der Miasmen hielt sich sowohl in der europäischen als auch in indischen Medizintradition sehr lange – Bakterien als Seuchenursache wurden erst im 19. Jahrhundert entdeckt. Bereits in den 1660ern hatte der niederländische Textilhändler Antoni van Leeuwenhoek (st. 1723) die Existenz von Bakterien nachgewiesen. Doch auch der Ausbruch großer Choleraepidemien sowohl in Großbritannien als auch in Indien ab den 1820ern konnten denjenigen, die von Bakterien als Infektionsursache überzeugt waren, mit ihren Forschungen noch nicht zum Durchbruch verhelfen. Sowohl Robert Koch, Ignaz Semmelweis und Louis Pasteur konnten ebenfalls Mikroorganismen nachweisen, doch zumindest für Großbritannien und seine Kolonien waren die Forschungen von John Snow (ja wirklich, st. 1858) maßgeblich: er entdeckte, dass die Wasserqualität in London und die dortigen Choleraausbrüche unmittelbar miteinander zusammenhingen – und Bakterien dafür verantwortlich waren. Snows Beobachtungen führten schließlich dazu, dass sowohl in Großbritannien als auch in den indischen Kolonien Maßnahmen zur öffentlichen Hygiene getroffen wurden und ein ein Sanitärsystem errichtet wurde.
Was die Pest angeht, so wurde der Pesterreger Yersinia pestis erst im Jahr 1894 entdeckt – und nach seinem Entdecker Alexandre Émile Jean Yersin (st. 1943) benannt.
Zoonosen – Infektion von Tier zu Mensch und Mensch zu Tier
Yersin gelang es in einem Wettstreit mit vielen internationalen Wissenschaftlern, den Erreger der Pest aus den Lymphknoten Pestkranker zu isolieren. Er wies ebenso nach, dass derselbe Erreger für das Rattensterben in Hongkong verantwortlich war und belegte dadurch, dass durch den Biss von Rattenflöhen die Pest von Tieren auf Menschen übertragbar war. Ebenso überträgt sich die Pest aber auch von Mensch zu Mensch durch Tröpfcheninfektion.
Dieser Typ von Erkrankungen, die von Tier zu Mensch (und umgekehrt) übertragbar sind, nennt man Zoonosen. Neben der Pest sind Salmonellen ein weiteres Beispiel. Wie auch in Europa war die Pest in Südasien weit verbreitet.
Ratten, Infektion und Dschahângîrs Memoiren
Auch unter der der Herrschaft der indischen Moguln forderten zahlreiche Ausbrüche der Pest unzählige Opfer. In den Chroniken des Herrschers Akbar (st. 1605) gibt es keine medizinischen Erklärungen zu diesen Pestausbrüchen, sondern es wird vom Chronisten Abû l-Fazl ein Zusammenhang zwischen der Konstellation von Planeten, dem Auftreten von Kometen und Epedemien hergestellt (The Akbarnama of Abul Fazl, translated by H. Beveridge, Vol.3, S. 313).
1616, also unter der Herrschaft von Akbars Sohn Dschahângîr , kam es zu einem großen Pestausbruch im Punjab. Die Epidemie verbreitete sich schnell bis in Dschahângîrs Hauptstadt Agra. Dschahângîr berichtete in seinen Memoiren, im Dschahângîr-nâma über diesen Ausbruch. Es ist interessant, dass man anhand dieser Beschreibung auf eine Übertragung von Tier zu Mensch schließen konnte – ohne, dass dieses zu diesem Zeitpunkt in der „westlichen“ Medizin bekannt gewesen wäre.
Dschahângîr machte die beschriebenen Beobachtungen der Pestinfektion durch Ratten bzw. Mäuse nicht selbst, sondern die Tochter seines Schwagers Âsaf Khân berichtete von diesen Ereignissen (Âsaf Khân war der Bruder von Dschahângîrs bedeutender Ehefrau Nûr Dschahân) Dschahângîr fand diese Beschreibung „erstaunlich“ :
Die Tochter des verstorbenen Âsaf -Khân, die sich im Hause des ‚Abdullah, des Sohnen von Khân-e A’zam aufhält, hat einen erstaunlichen und befremdlichen Bericht gegeben und hat seine Richtigkeit (tashîh) aufs äußerste bekräftigt. Er wird (hier) wegen seiner merkwürdigen Inhalte (gharâ’eb) verzeichnet. Sie sagte:
Eines Tages kam im Hof des Hauses eine Maus (oder Ratte, mûs) ins Blickfeld, die verwirrt, in der Art der Betrunkenheit immer wieder hinfallend und aufstehend, in alle Richtungen lief und nicht wusste, wohin sie gehen sollte. Ich sagte einer der Dienerinnen, sie solle sie am Schwanz packen und der Katze hinwerfen. Die Katze sprang mit Begeisterung und Freude von ihrem Platz auf und nahm die Maus ins Maul, ließ sie aber sofort wieder los und zeigte Abscheu. Nach und nach traten in ihrem Gesicht die Spuren des Leidens an Schmerzen in Erscheinung. Am folgenden Tag war sie nahe daran zu sterben. Es kam mir in den Sinn, dass man ihr etwas vom besten Theriak (…) geben sollte. Als ihr Maul geöffnet wurde, sahen Gaumen und Zunge schwarz aus, und nachdem sie drei Tage lang in elendem Zustand verbracht hatte, kam sie am vierten Tag wieder zu Bewusstsein. Danach erschein eine Pestbeule (…) an einer Dinerin, und wegen des Übermaßes an Übelkeit und des Anwachsens der Schmerzen fand sie keine Ruhe und Rast. Ihre Hautfarbe veränderte sich zu einem Gelb, das zum Schwarz hinneigte, und sie bekam hohes Fieber. Am folgenden Tag gab sie etwas von oben von sich, und es trat hinten aus (d.h.: sie musste erbrechen und sie hatte Durchfall), und sie starb. In derselben Weise wurden in jenem Haus sieben, acht, Personen zunichte, und einige waren krank, als wir diesen Wohnsitz verließen und in die Gartenanlage zogen. Diejenigen, welche die Krankheit hatten, verstarben im Garten, aber kein anderer mehr bekam die Pestbeulen. Zusammengefasst traten innerhalb von acht, neuen, Tagen siebzehn Personen die Reise ins Jenseits an.
Sie (i.e. die Tochter von Âsaf Khân, C.P.) sagte auch:
Wenn diejenigen, die Beulen bekommen hatten, jemand anderen um Wasser zum Trinken oder Waschen baten, ging es sofort auch auf diesen über (…), und am Ende kam es soweit, dass sich ihnen aus lauter Furcht niemand mehr näherte.
Susanne Kurz, Stefan Reichmuth: Der Fallbericht in der graeco-islamischen Medizin, S. 248-249, Übersetzung aus dem Persischen von Susanne Kurz.
Das detaillierte Beispiel der Übertragung von Bakterien von Tieren auf Menschen zeigt, dass bei weltweit auftretenden Erkrankungen ein Blick in die Quellen / Beobachtungen verschiedener kultureller Kontexte lohnt, um die Erforschung und Heilung von Krankheiten voranzutreiben. Dieses ist in heutigen Zeiten selbstverständlich einfacher als zur Mogulzeit.
Nur durch internationale Zusammenarbeit, die auch unterschiedliche Konzepte von Körper und Krankheit berücksichtigt, kann (medizinische) Forschung erfolgreich sein.
Beitragsbild:
Bâbu Râm: Usûl-i Kokashastra. Muradabad, 1901, S. 19. (British Library)
Literatur:
Abû l-Fazl: The Akbarnama of Abu’l Fazl / transl. by H. Beveridge. 1st ed. Calcutta 1939.
Kurz, Susanne; Stefan Reichmuth. „Zwischen Standardisierung und Literarisierung: Der Fallbericht in der graeco-islamischen Medizin“. In Der ärztliche Fallbericht, ed. by Rudolf Behrens and Carsten Zelle (Wiesbaden: Harrassowitz, 2012), 235 ff.
Hier gibt es einen Überblick über unsere Beiträge zu den Moguln
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