War Ibn Sînâ – in Europa als Avicenna bekannt – überhaupt das, was wir uns heute unter einem Arzt vorstellen?
Damit meine ich: Hat Ibn Sînâ eigentlich in nennenswertem Umfang als Arzt praktiziert? Denn unter “Arzt” stellen wir uns heute doch jemanden vor, der tatsächlich Patienten behandelt.
Ibn Sînâ als praktischer Arzt?
Nachdem ich Ihnen im letzten Teil der Ibn-Sînâ-Miniserie eine Anekdote über Ibn Sînâs wunderbare Fertigkeiten als Heiler erzählt habe, mag Ihnen die Frage nach seiner tatsächlichen ärztlichen Praxis vielleicht seltsam vorkommen.
Außerdem haben wir uns daran gewöhnt, daß zum Studium der Medizin fraglos auch die Heranführung an die medizinische Praxis gehört und daß wohl kaum ein Mediziner völlig ohne praktische Erfahrungen einen Abschluß machen könnte. Immerhin dürften heute die wenigsten Menschen Medizin studieren ohne die Absicht, hinterher tatsächlich als praktische Ärzte zu arbeiten. Oder wenigstens stelle ich als Nicht-Medizinerin mir das so vor.
Abgesehen davon ist Ibn Sînâs umfangreichstes medizinisches Werk, der “Kanon der Medizin”, berühmt in Ost und West. Lange Zeit gehörte es auch in Europa zum Unterrichtsstoff für angehende Mediziner. Ist es da nicht unwahrscheinlich, daß der Verfasser nur wenig Erfahrung als praktischer Arzt gehabt haben könnte? Und natürlich gibt Ibn Sînâ auch in seiner Autobiographie Beispiele für seine spektakulären Behandlungserfolge.
Warum sollte man sich also fragen, ob Ibn Sînâ wirklich ein erfahrener Praktiker war und nicht in erster Linie ein Verfasser theoretischer Werke?
Anlaß zu Mißtrauen
Dafür gibt es sogar mehrere Gründe. Zunächst einmal ist die oben erwähnte Anekdote nicht sonderlich vertrauenswürdig, wie ich hier schon einmal erklärt habe. Und eine Autobiographie muß erst recht mit Vorsicht gelesen werden, denn die Informationen in einem solchen Werk sind meist aus den verschiedensten Gründen wenig zuverlässig, sofern sie nicht anderweitig bestätigt werden.
Dann haben wir bereits im vorletzten Teil der Ibn-Sînâ-Miniserie gesehen, daß Ibn Sînâ in Streitfällen doch eher auf der Seite der aristotelischen Philosophie stand als auf der Seite der galenischen Medizin. Im Zweifel verstand er sich demnach mehr als Philosoph denn als Arzt.
Und schließlich muß man sich nur einmal anschauen, was es für Ibn Sînâ eigentlich bedeutete, die Medizin zu beherrschen – dann fragt man sich unwillkürlich, wie er überhaupt zum Wert der medizinischen Praxis stand. Denn in seinem berühmten und weit verbreiteten “Kanon der Medizin” liest man im Abschnitt über die Definition der Medizin folgendes:
(…) Wenn gesagt wird, zur Medizin gehöre Theoretisches und Praktisches, so muß man nicht annehmen, daß damit gemeint wäre, daß einer der beiden Teile der Medizin im Erlernen des Wissens (‘ilm) bestehe und der andere Teil in der Durchführung der Praxis (‘amal). (…) Vielmehr mußt du wissen, daß damit etwas anderes gemeint ist. Nämlich daß keiner der beiden Teile der Medizin etwas anderes als Wissen (‘ilm) ist: Einer der beiden ist das Wissen von den Grundlagen der Medizin und der andere das Wissen von der Art und Weise der Anwendung der Medizin. Daher wird der erste der beiden als Wissen (‘ilm) oder Theorie (nazar) bezeichnet und der andere als Praxis (‘amal). (…) Wenn du also Kenntnis dieser beiden Teile hast, so hast du wahrlich das theoretische und das praktische Wissen (‘ilm ‘ilmî wa ‘ilm ‘amalî) erworben, auch wenn du nie praktizierst. (Qânûn, Bd. 1, S. 3)
Mit anderen Worten: Für Ibn Sînâ beherrscht derjenige die Medizin, der sowohl das theoretische als auch das praktische medizinische Wissen beherrscht. Ob er es auch praktisch anwendet, ist demnach völlig irrelevant. Das spricht nicht eben für eine besondere Hochachtung Ibn Sînâs für die medizinische Praxis.
Spätere Autoren in der Nachfolge Ibn Sînâs haben dann ganz unmißverständlich formuliert, man sei auch dann ein vollkommener Arzt (tabîb), wenn man nur das theoretische und das praktische Wissen beherrsche, selbst wenn man nie praktiziere. Ein hervorstechendes Beispiel für diese Auffassung ist Nûr od-Dîn-e Schîrâzî, der im 17. Jahrhundert in Indien eine ähnlich umfangreiche medizinische Enzyklopädie verfaßt hat wie Ibn Sînâs Qânûn – nur auf persisch. Es handelt sich also keineswegs um eine kurzlebige Sichtweise.
Mittlerweile dürfte sich Ihre Verwunderung über meine Eingangsfrage gelegt haben. Daher ist es an der Zeit, daß wir uns einmal die bisherigen Forschungsergebnisse zu dieser Frage anschauen. Allerdings muß ich Sie warnen: Die Antwort ist eine typisch wissenschaftliche.
Und die Antwort lautet…
… wie üblich: Wir wissen es nicht genau. Das ist unbefriedigend, aber so ist das in der Forschung nun mal: Vieles ist noch ungeklärt, und wer mehr wissen will, macht sich am besten selbst an die Arbeit. Anders wäre es ja auch langweilig. 😉
Die jüngste Äußerung zu diesem Thema, die mir bekannt ist, stammt aus dem Standardwerk von Peter Pormann und Emilie Savage-Smith zur Geschichte der “islamischen” Medizin.
Die Autoren stellen fest, daß es weder im Qânûn noch in Ibn Sînâs anderen medizinischen Werken nennenswerte Fallgeschichten oder Notizen über eigene Erfahrungen des Autors gibt. Außerhalb seiner Autobiographie und historisch mäßig glaubwürdiger Anekdoten gebe es daher kaum Belege dafür, daß Ibn Sînâ umfangreiche Erfahrungen als praktischer Arzt gehabt hätte. Andererseits teile sein Schüler Dschûzdschânî mit, daß Ibn Sînâ einige medizinische Erfahrungen notiert habe, die er in den Qânûn habe einfügen wollen. Nur seien diese Notizen verloren gegangen, ehe er das habe umsetzen können.
Sie sehen also: Die Informationen sind widersprüchlich. Das Buch von Pormann und Savage-Smith stammt von 2007. Falls jemand neuere Informationen hat, freue ich mich natürlich über eine Mitteilung. 🙂
Quellen
Ibn Sînâ: Al-Qânûn fî t-tibb. 3 Bde. Beirut. Bd. 1, S. 3.
‘Eyn ol-Molk Nûr od-Dîn Mohammad ‘Abdollâh: ‘Elâdschât-e Dârâ-Schokûhî. Ms. Supplément Persan 342, fol. 115v.
Literatur
Peter E. Pormann/Emilie Savage-Smith: Medieval Islamic Medicine. Edinburgh: Edinburgh University Press, 2007. S. 117f.
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