Wesir der Seldschuken: Der Aufstieg des Nezâm ol-Molk Teil 1

Zur zweiten Folge geht es hier.

Heute starte ich eine Serie zu einer meiner historischen Lieblingspersönlichkeiten: dem Seldschukenwesir Nezâm ol-Molk-e Tûsî (arab.: Nizâm al-Mulk at-Tûsî), den ich kürzlich auch schon hier erwähnt habe. Seine Person ist nicht nur deshalb so interessant, weil er einer der mächtigsten und nicht zuletzt langlebigsten Wesire der Geschichte der Muslime war, sondern auch wegen der vielen reizvollen Anekdoten, die über ihn erzählt werden. Dabei geht es zwar nicht gerade um „sex and crime“, aber doch um Menschen, Macht und Intrigen, kurz: um das Leben. Und für kriminalistisch Interessierte bieten die Umstände seines Todes auch einiges Material zum Nachdenken. Doch dazu kommen wir später. Beginnen wir zunächst an der nächstliegenden Stelle: am Anfang.

Geboren wurde Nezâm ol-Molk entweder im Jahr 1018 oder im Jahr 1019-20. Jedenfalls kann man beide Angaben in den Quellen finden, aber natürlich in Mondjahren nach der islamischen Zeitrechnung. Nur sind Mondjahre kürzer als die Sonnenjahre, mit denen wir rechnen. Daher kommt die Unklarheit bei dem zweiten möglichen Geburtsjahr, denn das Jahr 410 nach islamischer Zeitrechnung begann im Jahr 1019 und endete im Jahr 1020. Nun ist Nezâm ol-Molk kein Name, sondern ein Titel, der soviel bedeutet wie „die Ordnung des Reiches“. Der Name des Nezâm ol-Molk lautete Abû ‚Alî al-Hasan ibn ‚Alî ibn Ishâq at-Tûsî, also Abû ‚Alî al-Hasan, Sohn des ‚Alî, des Sohnes des Ishâq, aus Tûs. Dabei ist al-Hasan der eigentliche Eigenname, während Abû ‚Alî der Teil des Namens ist, der ursprünglich zur Anzeige des ersten Sohnes verwendet wurde.

Diesen Namensbestandteil nennt man die kunya, und „Abû ‚Alî“ bedeutet „Vater des ‚Alî“. Zur Zeit des Nezâm war es allerdings schon üblich, jungen Männern unabhängig vom Vorhandensein eines Sohnes eine kunya zu verleihen, mit der sie fortan angeredet wurden. Dabei gab es gewisse Konventionen. So wurde der Eigenname al-Hasan gern mit der kunya Abû ‚Alî verbunden. (Im übrigen ist es in manchen Gegenden unter Arabern heute noch üblich einen Mann höflich als „Vater des Soundso“ („Abû …“) und eine Frau als „Mutter des Soundso“ („Umm…“) anzureden.)

Doch zurück zum Nezâm! Sein Geburtsort war ein Dorf in der Nähe von Tûs. Daher kommt sein Beiname „at-Tûsî“ oder „Tûsî“, also „aus Tûs“. Tûs lag in der Nähe des heutigen Maschhad und hat eine Reihe bekannter Männer hervorgebracht, darunter auch den Gelehrten Nasîr ed-Dîn-e Tûsî. Von den beiden Brüdern des Nezâm hat mindestens einer das Erwachsenenalter erreicht. Er wird in den Quellen auch als Rechtsgelehrter erwähnt. Doch die Mutter des Nezâm starb früh. Sein Vater war der Sohn eines dehqân, also eines Landadeligen, in Beyhaq im Nordosten des heutigen Iran, und er arbeitete als Steuereinnehmer für den Statthalter Chorâsâns, einem großen nordöstlichen Gebiet Irans, das damals auch große Teile des heutigen Afghanistan und anderer Staaten umfaßte (s. Karte im Wikipedia-Artikel). Damals herrschten in Chorâsân die Ghaznaviden (977-1186). Das war eine turkstämmige Dynastie, die im 11. Jahrhundert über das heutige Afghanistan, Teile Irans, Teile Turkmenistans und Tadschikistans, Pakistans sowie Nordindiens herrschte und ihr Zentrum im heutigen Afghanistan hatte, nämlich in Ghazna oder Ghaznîn, das heute als Ghaznî bekannt ist.

Doch im Jahr 1040 verlor der damalige Ghaznavidenherrscher Mas’ûd mit seiner großen Armee die schicksalhafte Schlacht von Dandânqân gegen die zahlenmäßig unterlegenen turkmenischen Seldschuken, die aus den nordöstlichen Steppen in das Ghaznavidenreich gezogen waren. Mit der Schlacht verlor Mas’ûd auch die Herrschaft über Chorâsân. Von Mas’ûds Herrschaft handelt übrigens ein hochinteressantes Geschichtswerk, auf das ich sicher ein anderes Mal noch ausführlicher zu sprechen komme. Der Vater des Nezâm war – Sie erinnern sich – Steuereinnehmer für den ghaznavidischen Statthalter in Chorâsân gewesen. Da nun die Ghaznaviden Chorâsân verloren hatten, floh der Vater des Nezâm mitsamt seinem Sohn al-Hasan, dem späteren Nezâm, in die Hauptstadt Ghazna, wo offenbar beide einige Zeit in der Verwaltung beschäftigt waren.

In den folgenden Jahren eroberten die Seldschuken unter Führung der Brüder Toghril und Tschaghrî Beg weitere Gebiete in Iran und stießen nach Westen vor, bis sie 1055 unter Toghril Beg Bagdad erreichten und den sunnitischen Abbasidenkalifen dort von den schiitischen Bûyiden (herrschten im 10. und 11. Jahrhundert) „befreiten“. Der Kalif war zu dieser Zeit schon nicht mehr das politische, aber doch noch das religiöse Oberhaupt der sunnitischen Muslime. Obwohl die Bûyiden Schiiten waren, die den Abbasidenkalifen anders als die Sunniten nicht als religiöses Oberhaupt anerkannten, hatten sie ihn bei ihrer Machtübernahme in Bagdad aber nicht vernichtet. Daher konnte der Kalif zwar weiterhin die Funktion des religiösen Oberhauptes der Sunniten erfüllen, aber regieren ließen die Bûyiden ihn nicht einmal mehr seine eigene Stadt. Die Seldschuken dagegen waren Sunniten, der Abbasidenkalif in Bagdad also ihr religiöses Oberhaupt, und so erleichterte ihn die „Befreiung“ durch die Seldschuken zunächst. Ihrem Anführer Toghril Beg verlieh der Kalif den Titel „Sultan“. Aber natürlich gaben auch die Seldschuken dem Kalifen seine politische Macht nicht zurück. Nur ist das wieder eine andere Geschichte.

Kehren wir nun zurück zu al-Hasan, dem späteren Nezâm: Schon wenige Jahre nach der Schlacht von Dandânqân, nämlich um 1043 oder 1044, verließ al-Hasan die Dienste der Ghaznaviden, die zwar nur noch einen Teil ihres früheren Reiches beherrschten, sich aber noch bis ins späte 12. Jahrhundert als Lokaldynastie im heutigen Afghanistan und Nordindien hielten. Offenbar zog es al-Hasan aber in das Lager der aufstrebenden Seldschuken, denn er trat in Balch (heute im Norden Afghanistans) in seldschukische Dienste ein, vermutlich beim dortigen Militärstatthalter. Das war deshalb möglich, weil die turkstämmigen Dynastien in Iran ihre Reiche immer von der vor Ort ansässigen, ausgezeichnet ausgebildeten iranischen Verwaltungselite organisieren ließen. Und diese Verwaltungselite blickte auf eine lange Berufstradition bis tief in die vorislamische Zeit zurück . Es gab viele Familien dieser sogenannten „Sekretäre“, aus denen über Jahrhunderte hinweg die Verwaltungsangestellten der unterschiedlichsten Reiche hervorgingen. Man könnte also sagen: die Herrscher kamen und gingen, aber die Verwaltungselite blieb. Somit „beerbten“ auch die Seldschuken gewissermaßen die Ghaznaviden im iranischen Osten und stellten die Sekretäre der besiegten Dynastie zur Verwaltung ihres Reiches ein.

In dieser „Erbmasse“ befand sich nach seinem Eintritt in seldschukische Dienste also auch al-Hasan, der später zu Nezâm ol-Molk werden sollte. Allerdings hielt es ihn nicht lange bei seinem Dienstherrn in Balch. Bereits im Jahr 1053 oder 1054 (hier erstreckt sich das islamische Jahr 445 wieder über zwei Jahre der christlichen Zeitrechnung) floh al-Hasan auch aus dieser Stellung und suchte nun Zuflucht bei Tschaghrî Beg. Sie erinnern sich: Das war der Bruder des seldschukischen Sultans Toghril Beg und damit der zweite Mann im neu entstandenen Seldschukenreich. Tschaghrî Beg schickte al-Hasan wiederum zu seinem Sohn Alp Arslân, wo al-Hasans Reise vorläufig endete. Alp Arslân war zu dieser Zeit der Stellvertreter seines Vaters im östlichen Chorâsân, und al-Hasan wurde Alp Arslâns Wesir unterstellt.

Wieso al-Hasan aber überhaupt aus Balch geflohen war und wie er zu Nezâm ol-Molk wurde, das erzähle ich Ihnen in der nächsten Folge der Nezâm-ol-Molk-Serie. Schauen Sie doch wieder herein!

Quellen

Susanne Kurz: „Der Hof des Nizâm al-Mulk“. Unveröffentlichte Magisterarbeit, Universität Tübingen, 2001.

Dort habe ich vor allem die folgenden Informationsquellen (inklusive Forschungsliteratur) verwendet:

Art. „Nizâm al-Mulk“. In: EI1. Hgg. M. Th. Houtsma u. A. Wensinck. 1. Aufl. Leiden u. Leipzig 1913-1934.

Gholâmhoseyn-e Yûsofî: „Pîr-e siyâsat“. In: Gholâmhoseyn-e Yûsofî (Hg.): Dîdârî bâ ahl-e qalam: Dar bâre-ye bîst ketâb-e nasr-e fârsî. 1. Bd. Mašhad 1355 š./1978. 107-141.

Ebn-e Fondoq, Zahîr od-Dîn Abo l-Hasan ‚Alî b. Zeyd-e Beyhaqî: Târîch-e Beyhaq. Hg u. mit Anhang versehen v. Ahmad-e Bahmanyâr. Eingel. v. Mîrzâ Mohammad b. ‚Abdolvahhâb-e Qazvînî. 2. Aufl. Ketâbforûšî-ye Forûghî 1317 š./1938.

Ibn al-Athîr: Al-Kâmil fi t-ta’rîch. Hg. C. J. Tornberg. 13 Bde. Leiden 1851-1876. 10. Bd. Nachdr. Bayrût 1386 H/1966.


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