Seit kurzer Zeit ist es auf dem Markt: das umfangreiche Quellenhandbuch, das von vier (ehemaligen) Wissenschaftlern der Ruhr-Universität Bochum herausgegeben wurde: Björn Bentlage (Orientalistik und Islamwissenschaft, früher Bochum, jetzt Halle), Marion Eggert (Koreanistik), Hans Martin Krämer (Japanologie, ehemals Bochum, jetzt Heidelberg) und Stefan Reichmuth (Orientalistik und Islamwissenschaft, Bochum) haben zahlreiche Quellentexte aus dem späten 19. Jahrhundert zusammengetragen, die die zunehmenden Verflechtungen von Handel, Politik und Kultur zwischen Asien, dem Nahen Osten und Europa belegen.
Die teilweise erstmals ins Englische übersetzten Texte stammen von bekannten und weniger bekannten Autoren, die über ihre eigene Religion und den Kontakt (manchmal auch die Konfrontation) mit „fremden“ Religionen nachdenken – zu einer Zeit, die von Imperialismus und Kolonialismus geprägt war.
Heute möchte ich Ihnen gerne meinen eigenen Beitrag vorstellen, der den Titel trägt: „Ghulâm Ahmad al-Qâdiyânî: der Messias der Christen – Friede sei mit ihm – in Indien – (Qadian, 1908)“. Der Beitrag ist in englischer Sprache, und ich habe Einleitung und Übersetzung des Textes zusammen mit Jonathan Korbel geschrieben.
Bereits in meiner Dissertation über die Ahl-e-hadîth-Bewegung habe ich mich mit der Ahmadiyya-Bewegung im Islam beschäftigt, denn die beiden im Indien des späten 19. Jahrhunderts entstandenen Reformbewegungen des Islam standen sich sich im religiösen Diskurs scheinbar völlig unversöhnlich gegenüber. Sowohl die Ahmadiyya als auch die persische Bewegung der Baha’i, die im selben Zeitraum entstand, gerieten in Konflikt mit dem „sunnitischen Mainstream“ ihrer Zeit.
Im Fall der Ahmadiyya begründete sich dieses auf den religiösen Ansprüchen des Gründers Mîrzâ Ghulâm Ahmad Qâdiyânî (1835-1908) und seiner Interpretation der klassischen islamischen (sunnitischen) Endzeit-Lehre.
Letztere möchte ich einmal ganz kurz zusammenfassen: Nach sunnitischer Vorstellung ist der Tod Muhammads für die islamische Gemeinschaft (umma) ein einschneidendes Erlebnis. Danach wurde die umma gespalten und geht auf die Endzeit zu. Zwar gibt es an der „Spitze eines jeden Jahrhunderts“ einen „Erneuerer“ (mudschaddid) des Glaubens, jedoch ist das Ende der Welt unabwendbar – die Frage ist nur, wann es soweit ist.
Nach dem mudschaddid tritt eine weitere wichtige Figur im Endzeitdrama auf: der mahdî, der „Rechtgeleitete“. Er übernimmt die militärische Führung im Kampf gegen Gog und Magog (Ya’dschûdsch wa-Ma‘dschûdsch) und schließlich gegen den „Antichristen“ (dadschdschâl).Ich verwende hier den christlichen Begriff, um eine Vorstellung des ansonsten nur schwer zu übersetzenden Ausdrucks zu vermitteln. Unterstützung erhält der mahdî vom erwarteten Messias (masîh al-mau‘ûd), der nach sunnitischer Vorstellung identisch mit Jesus (Îsâ‘ b. Maryam) ist. Nach dem Kampf gegen den dadschdschâl errichten sie ein Reich des Friedens, das, je nach Interpretation, 100 oder 1000 Jahre dauert. Nach dem endgültigen Untergang der Welt werden die Menschen dann ins Paradies oder in die Hölle gelangen…
Zum Ende des 19. / zu Beginn des 20. Jahrhundert gab es viele Prophezeiungen zum nahenden Weltende. Mîrzâ Ghulâm Ahmad Qâdiyânî trat aus der Menge dieser Prophezeiungen deutlich hervor. Zunächst erklärte er, dass er selbst ein mudschaddid, ein „Erneuerer der Religion“, sei – ein Anspruch, der wie gesagt zu dieser Zeit zwar umstritten, aber nicht ungewöhnlich war.
Als besonders problematisch wurde von den Sunniten Ghulâm Ahmads Interpretation der Rolle Jesu empfunden. Ich hatte ja in diesem Blog schon mehrfach über die Rolle von Jesus im Islam geschrieben: nach sunnitischer Vorstellung wurde Jesus nicht gekreuzigt, sondern von Gott vor der Kreuzigung bewahrt und lebendig (hayyan) in den Himmel gehoben. Im Zuge der Endzeit wird er vom Himmel herabsteigen und den mahdî bei seinem Kampf gegen das Böse unterstützen. Die christliche Lehre von Kreuzigungstod und Wiederauferstehung Jesu wird abgelehnt.
Ghulâm Ahmad erklärte nun, dass der mahdî und der Messias ein und dieselbe Person seien – und zwar NICHT Jesus. Aus vielen seiner Werke lässt sich ableiten, dass Ghulâm Ahmad für sich selber beanspruchte, der mahdî und der Messias in einer Person zu sein. Dieses verstieß nach Meinung vieler islamischer Theologen gegen die Lehre vom Siegel der Propheten: Muhammad war der letzte in der Reihe der Propheten, nach ihm konnte und kann es niemals mehr einen Propheten geben.
Doch wie interpretierte Ghulâm Ahmad nun die Rolle Jesu? Was geschah mit Jesus? Der Titel dieses Beitrages verrät es schon: Ghulâm Ahmad betrachtete Jesus nicht als den Messias des Islam – sondern als Messias der Christen, der in Indien gelebt hatte.
Jesus habe, so Ghulâm Ahmad, die Kreuzigung überlebt, da die Effekte der Kreuzigung nicht stark genug gewesen seien. Mit Hilfe eines Marham ar-rusul („Balsam der Propheten“), das auch heute noch in der Unani Medizin bekannt ist, habe Jesus seine Kreuzigungswunden geheilt. Dann habe er sich mit einigen seiner Jünger auf eine lange Wanderschaft begeben und sich schließlich in Indien niedergelassen. Im römischen Reich sei sein Leben schließlich in Gefahr gewesen.
Jesus habe dort als Prediger gelebt und zudem die Verlorenen Stämme Israels wiedervereinigt. Im Alter von über 120 Jahren sei Jesus schließlich in Indien gestorben und in Srinagar, der Hauptstadt Kaschmirs, bestattet. Dieses sei, so Ghulâm Ahmad, durch die Legenden vor Ort hinreichend belegt.
In der Tat gibt es in Srinagar einen großen Schrein mit dem Namen Rozabal, der als Grab von „Yuz Asaf“ gilt. In den lokalen Überlieferungen, die im Laufe der Zeit auch schriftlich niedergelegt wurden, vermischen sich hier Legenden und Traditionen zur Interpretation von Yuz Asaf, Jesus und Buddha.
Diese Pluralität der Überlieferungen erleichterte Ghulâm Ahmad auch die Neu-Interpretation der Legenden von Jesus in Indien.
Wir haben die Einleitung der ARABISCHEN Version des Buches „Jesus in Indien“ (Masîh an-nasâra fî l-Hind) verwendet, das in dieser Form 1908 erschienen ist – jedoch gab es ganze Kapitel bereits in Urdu. An der Einleitung fanden wir besonders interessant, dass sich Ghulâm Ahmad sehr deutlich gegen einen dschihâd als Angriffskrieg der Muslime wandte. Hier lehnte er theologische Rechtfertigungen eines dschihâd gegen die Briten ab – so, wie sie von anderen islamischen indischen (und afrikanischen) Bewegungen gegeben worden waren. Mit seinen theologischen Vorstellungen widersprach Ghulâm Ahmad hier sowohl der Mehrheit der sunnitischen Muslime als auch den Christen im kolonialen Indien seiner Zeit.
Außerdem fand ich sehr spannend, dass sich auch Ufologen wie Andreas Faber-Kaiser (st. 1994) und Erich von Däniken mit Jesus in Indien beschäftigten!
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Das Buch „Jesus in India“ kann in vielen Sprachen auf der Offiziellen Website der Ahmadiyya-Bewegung heruntergeladen werden: https://www.alislam.org/
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