Wie ich sehe, steht es bei der Abstimmung 50:50 für Kapitel 5 und 6. Ich habe also eine Passage ausgesucht, die ich als Auszug für besonders geeignet halte. Da das Kapitel über Mas’ûds Entwicklung ohne die vorhergehenden Kapitel doch ein bißchen schwer verständlich sein könnte, habe ich mich für einen Auszug aus Kapitel 6 entschieden.
Vor dem Auszug habe ich ausführlich erläutert, worauf es vormodernen Geschichtsschreibern in der Regel besonders ankam und warum – und wie sich ihre Ziele von denen moderner Historiker unterscheiden. Nach dem Auszug gehe ich noch genauer auf die besondere Strömung der Geschichtsschreibung ein, zu der Bo l-Fazl gehörte, und wo er in dieser Strömung steht. Denn Sie erinnern sich: Sein Werk ist etwas Besonderes und unterscheidet sich daher auch in mehreren Punkten von den zu seiner Zeit vorherrschenden Trends.
Außerdem erfahren Sie am Ende des Kapitels noch etwas über den tieferen Sinn von Geschichtsschreibung und darüber, wer das Zielpublikum von Geschichtswerken wie der „Geschichte Mas’ûds“ gewesen sein dürfte.
Der Auszug ist heute ein bißchen länger als sonst, damit Sie einen besseren Einblick bekommen – vor allem, weil ich heute hoffentlich die E-Book-Datei fertigstellen werde und das Buch dann nächste Woche herauskommt. Allerdings macht mir die Formatierung (oder besser: Nicht-Formatierung) für E-Book-Dateien noch etwas zu schaffen. Wie Sie vielleicht sehen, habe ich die Umschrift schon vereinfacht. Momentan arbeite ich an den letzten Feinheiten der Datei. Sie bekommen auf jeden Fall Bescheid, sobald das E-Book erhältlich ist! 🙂 Aber jetzt erstmal viel Spaß bei der Lektüre!
Kapitel 6: Bo l-Fazl verstehen lernen: Was will vormoderne Geschichtsschreibung leisten?
[…] Geschichtsschreibung hatte also eine »Moral von der Geschicht’«, und auf diese kam es eigentlich an. Aus ihr konnte man Schlüsse ziehen und für die Gegenwart und Zukunft lernen. Und in einer solchen ethisch ausgerichteten Geschichtsschreibung waren Fakten eben nicht das, was als Hauptzweck vermittelt oder gar erst ermittelt werden sollte. Fakten an sich waren nicht interessant. Sie waren nur Rohmaterial, mit dem der Geschichtsschreiber etwas tun mußte. So konnte er sie zum Beispiel als Illustration einsetzen. Aus den geschilderten Ereignissen, den Fakten, ergab sich dann am Ende die Moral. Und aus dieser Moral ergab sich die Bedeutung der Fakten. Kurz gefaßt: Für den Geschichtsschreiber und für die Leser seines Werkes waren nicht die Fakten selbst interessant, sondern ihre Bedeutung für die Botschaft. Deshalb muß man damit rechnen, daß ein vormoderner Geschichtsschreiber die Fakten, die er mitteilte, nach ganz anderen Gesichtspunkten auswählte als ein moderner Historiker. Und es kann auch sein, daß er Fakten anders schilderte, als es ein moderner Historiker tun würde.
Zum Beispiel unterhaltsamer, mit viel mehr Anekdoten über bekannte Persönlichkeiten. Allerdings verwenden vormoderne Geschichtsschreiber oft Typisierungen. Dann erfahren wir durch eine Anekdote gerade nichts über eine bestimmte Person – zum Beispiel einen Herrscher –, über seine Vorlieben oder Schwächen oder seine Art zu denken und zu fühlen. Vielmehr verkörpert in solchen Anekdoten der handelnde Herrscher einen Typus, eine Art Schablone. Die Botschaft ist dann: Herrscher, die sich so verhalten oder diese Eigenschaften haben, denen wird dies oder jenes geschehen. Zum Beispiel: Ein Herrscher wie der gerechte Anûschîrvân wird lange herrschen, und sein Reich wird blühen.
Wenn man Geschichte so erzählt, dann liegt die Wahrheit eben nicht in korrekten Daten. Die Wahrheit liegt dahinter, in der Botschaft. Mit anderen Worten: Es ist nicht so wichtig, ob Anûschîrvân wirklich so ein Ausbund an Gerechtigkeit war und ob er sich in einer bestimmten Situation tatsächlich so oder anders verhalten hat. Wichtig ist, daß ein gerechter Herrscher ein erfolgreicher Herrscher ist. Diese Botschaft ist für den Geschichtsschreiber wahr, und sie will er vermitteln. Anûschîrvân als historische Person dagegen ist ihm möglicherweise weniger wichtig.
Doch für Bo l-Fazls Geschichtswerk trifft das nicht zu. Er teilt zwar immer wieder ganz ausdrücklich eine »Moral von der Geschicht’« mit, aber der Leser hat den Eindruck, daß es ihm sehr wohl auf korrekte Einzelheiten ankommt. Er nennt Namen, die in keinem anderen Geschichtswerk vorkommen. Er berichtet über die Familie und genaue Situation von Personen, die nicht zu den wichtigsten Persönlichkeiten seiner Zeit gehörten. Er bietet jede Menge Informationen über Einzelheiten am Hof, über Zeremonien und Feste und darüber, wie welche Entscheidungen getroffen wurden. Und er entschuldigt sich immer wieder dafür, daß er so ausschweifend erzählt. Aber er rechtfertigt sich damit, daß es nötig und ein Erfordernis der Geschichtsschreibung sei. So sagt er zu Beginn des Kapitels über Mas’ûds Handeln während der Herrschaft seines Bruders:
In anderen Geschichtswerken ist man nicht so in die Länge und Breite gegangen, denn man hat die Dinge zu leicht genommen und nicht mehr als einen Hauch erwähnt. Ich aber möchte, nachdem ich mir diese Arbeit vorgenommen habe, diesem Geschichtswerk vollauf gerecht werden und die Ecken und geheimen Winkel durchforschen, damit nichts von den Gegebenheiten verborgen bleibe.« (S. 11; Khalifeh-Soltani/Kurz 2006, S. 27; Bosworth, Übers., Bd. 1, S. 93)
Also mag Bo l-Fazl zwar eine Botschaft haben – oder womöglich mehrere –, aber er will auch möglichst viele korrekte Einzelheiten schildern. Deswegen sind die Gewährsleute auch so wichtig, denn sie liefern viele dieser Einzelheiten und bürgen dafür, daß sie richtig sind. Diese Eigenart von Bo l-Fazls Geschichtswerk hat mit seiner Vorstellung von der Wahrheit zu tun. Wie wir schon gesehen haben, ist er überzeugt, daß man die Wirklichkeit möglichst genau nachzeichnen muß, um die Wahrheit über die Ereignisse zu vermitteln. Und die Wirklichkeit ist komplex, nicht so einfach mit einem knappen Schema zu fassen. Deshalb führt Bo l-Fazl viele Informationen an: um die Wirklichkeit möglichst umfassend einzufangen – eine bewegliche, vielfältige, manchmal auch widersprüchliche Wirklichkeit.
Natürlich kann ihm das nicht gelingen. Niemandem gelingt das. Denn die Wirklichkeit ist schon zu komplex, um sie überhaupt umfassend wahrzunehmen. Bereits beim Hören, Sehen, Schmecken und Riechen sortieren wir, nehmen wir ausgewählte Dinge auf und blenden andere aus. Doch dazu kommen wir später noch. Wenn wir aber schon beim Wahrnehmen auswählen, dann tun wir es erst recht, wenn wir Geschehnisse für andere aufzeichnen. Alles kann man nicht aufschreiben, denn dann würde man nie fertig. Also schreibt man nur auf, was man wichtig findet. Und das ist bei jedem Menschen und in jeder Situation etwas anderes.
Doch bei einem Geschichtswerk wird das noch verstärkt. Denn ein Geschichtswerk, und ganz besonders ein vormodernes Geschichtswerk, will einen sinnvollen Zusammenhang herstellen. Selbstverständlich versuchen das auch moderne Historiker. Nur gab es in Bo l-Fazls Zeit eine besondere Form der Geschichtsschreibung, zu der auch sein Werk zählt. Man hat sie »rhetorisch-ethische« Geschichtsschreibung genannt. Sie zielt auf die kunstfertige Gestaltung einer sinnvoll zusammenhängenden Geschichte und will auf diesem Wege Botschaften über das rechte Verhalten vermitteln.
Wenn man aber in die vielen unübersehbaren und erst einmal nicht einzuschätzenden Ereignisse eines bestimmten Zeitraumes Ordnung bringen will, wenn man eine sinnvolle Geschichte mit einem Anfang und einem Ende daraus machen will, dann muß man die Fakten passend zu dem Sinn auswählen, den man mit der Geschichte stiften will. Denn aus den Fakten, die man auswählt, setzt sich die Geschichte zusammen. Und am Ende muß die Botschaft erkennbar werden.
Also wählt der Geschichtsschreiber noch stärker aus, als es durch seine Wahrnehmung und die seiner Gewährsleute ohnehin schon geschehen ist. Und er ordnet die Ereignisse so an, daß sie einen sinnvollen Zusammenhang ergeben. Dazu muß er hier etwas weglassen und dort etwas hinzusetzen – vielleicht eine Erläuterung, vielleicht eine Anekdote aus der früheren Vergangenheit. […]
Quelle
Beyhaqī, Ḫvāǧe Abū l-Fażl Moḥammad b. Ḥoseyn: Tārīḫ-e Beyhaqī. Hrsg. v. ʿAlī Akbar Fayyāż. Mašhad 1350 š/1971. S. 11.
Abu‘ l-Fażl Beyhaqi: The History of Beyhaqi: The History of Sultan Mas’ud of Ghazna, 1030-1041. 3 vols. Transl. with a historical, geographical, linguistic and cultural commentary and notes by C.E. Bosworth. Fully revised and with further commentary by Mohsen Ashtiany (= ILEX Foundation Series; 6). Cambridge, MA/London: Harvard University Press, 2011. Bd. 1. S. 93.
Khalifeh-Soltani, Iradj/Susanne Kurz: „Band 5 des Tārīḫ-e Beyhaqī in deutscher Übersetzung“. In: Spektrum Iran 3 (2006) 23-72. S. 23.
Angaben zum Cover (Beitragsbild)
Coverdesign: Linda Woods
Fotograf des Hintergrundbildes: aopsan/Shutterstock.com
Abbildung der Handschrift (Handschrift Nr. 3865, Tārīḫ-e Beyhaqī, Malek-Bibliothek Teheran, S. 117-118) mit freundlicher Genehmigung der Malek-Bibliothek Teheran und der Malek-Stiftung Maschhad
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