Gestern haben wir unsere Ausstellung in der Universitätsbibliothek der Ruhr-Universität Bochum eröffnet. Sie wird dort bis zum 30. April 2015 zu sehen sein und ist gleichzeitig die Abschiedspräsentation unseres Forschungsprojekts.
Hier der Flyer zur Ausstellung:
Leider sind wir diese Woche zum letzten Mal als Team aktiv gewesen. Wir nehmen im April unseren Resturlaub und müssen danach zu neuen Ufern aufbrechen, weil mit dem Projekt auch unsere Arbeitsverträge auslaufen.
Für die Ausstellung haben wir aber noch einmal richtig Gas gegeben: Wir haben elf Schaukästen bestückt und über dreißig Poster mit Bildern (viele von der Feldforschung meiner Kolleginnen in Indien und Pakistan), mit Karten und Erläuterungen angebracht. Zum Mitnehmen gibt es einen „Temperamentstypentest“, wie er aktuell verwendet wird, und eine Kurzfassung der folgenden Anekdote, die ich aus dem Persischen ins Deutsche übersetzt habe.
Ibn Sînâ heilt einen liebeskranken Prinzen
Meine Blogleser bekommen natürlich die lange Version der Anekdote zu lesen. Die wissenschaftlichen Umschriftzeichen entferne ich jetzt nicht. Ich hoffe, Sie kommen damit zurecht. Mehr über die Anekdote und ihr Thema – Ibn Sînâs wunderbare Fähigkeiten als praktischer Arzt – erzähle ich Ihnen demnächst auf diesem Blog.
Vorspann
Abū ʿAlī Ibn Sīnā ist in dieser Geschichte zuvor aus Ḫvārazm geflohen, weil Maḥmūd von Ġazna den dortigen Herrscher aufgefordert hatte, ihn an Maḥmūds Hof zu schicken, und Ibn Sīnā dem nicht Folge leisten wollte. Als Maḥmūd von Ibn Sīnās Flucht erfuhr, schickte er einen Steckbrief mit seinem Bild an alle Fürsten, damit sie den Flüchtigen zu ihm schicken sollten. Mehr zu dieser Vorgeschichte und zu Ibn Sīnā finden Sie hier.
Damit die Anekdote nicht zu unübersichtlich wird, habe ich sie durch Zwischenüberschriften ein wenig strukturiert. Die Zwischenüberschriften gehören also nicht zum Originaltext. 🙂
Ibn Sînâ in Gorgân
Von dort (Nischapur) wandte er sich nach Gorgān, denn Qābūs war der König von Gorgān, und er war ein großer Mann, ein Freund der Gebildeten und ein Mann von philosophischem Naturell. Abū ʿAlī wußte, daß ihm dort kein Leid geschehen würde. Als er nach Gorgān kam, stieg er in einer Karawanserei ab. Da wurde in seiner Nachbarschaft jemand krank, und er behandelte den Kranken, und der genas. Dann behandelte er einen anderen Kranken, und der genas ebenfalls. Man fing an, ihm morgens Uringläser zu bringen, und Abū ʿAlī schaute sie sich an, und seine Kenntnisse wurden offenbar. Tag für Tag wurde es mehr, und er ließ es einige Zeit lang so geschehen.
Ein Verwandter des Königs wird krank
Da erkrankte ein Verwandter des Qābūs-e Vošmgīr, des Königs von Gorgān, und die Ärzte begannen ihn zu behandeln und strengten sich an und nahmen es sehr ernst, doch die Krankheit wurde nicht geheilt, dabei lag Qābūs sehr viel an der Sache. Schließlich sagte einer der Diener zu Qābūs: „In der Herberge Soundso ist ein junger Mann abgestiegen, der ein gewaltiger Arzt ist und eine äußerst gesegnete Hand hat. Eine Reihe von Leuten ist schon durch ihn geheilt worden.“ Qābūs befahl: „Ruft ihn her und bringt ihn zu dem Kranken, damit er ihn behandelt und wir sehen, ob seine Hand gesegneter ist als die der anderen!“
Ibn Sînâs Behandlung
Da ließen sie Abū ʿAlī rufen und brachten ihn zu dem Kranken. Er sah einen ausgesprochen gutaussehenden Jüngling mit gleichmäßigen Gliedern und der Spur eines Schnurrbarts, der elend dalag.
Er setzte sich hin, fühlte seinen Puls und verlangte nach dem Urin und schaute ihn sich an. Daraufhin sagte er: „Ich brauche einen Mann, der alle Viertel von Gorgān kennt.“ Sie holten so einen Mann und sagten: „Hier ist er.“ Abū ʿAlī legte seine Hand auf den Puls des Kranken und sagte: „Sag vor und nenne alle Viertel von Gorgān!“
Der Mann fing an und begann die Namen der Viertel von Gorgān aufzusagen, bis er zu einem Viertel kam, bei dessen Nennung der Puls des Kranken eine seltsame Bewegung machte. Darauf sagte Abū ʿAlī: „Sag die Straßen dieses Viertels auf!“ Der Mann sagte sie auf, bis er zum Namen einer Straße kam, bei deren Nennung sich die seltsame Bewegung wiederholte. Da sagte Abū ʿAlī: „Ich brauche jemanden, der in dieser Straße alle Häuser kennt.“
Man brachte so jemanden, und er begann die Häuser aufzusagen, bis er zu einem Haus gelangte, bei dessen Nennung diese Bewegung erneut eintrat. Abū ʿAlī sagte: „Jetzt brauche ich jemanden, der alle Leute in diesem Haus kennt und aufsagt.“
Sie brachten so jemanden, und er begann die Namen aufzusagen, bis er zu einem Namen kam, bei dessen Nennung eben diese Bewegung entstand. Da sagte Abū ʿAlī: „Wir sind fertig.“ Dann wandte er sich den Vertrauten des Qābūs zu und sagte: „Dieser junge Mann ist in diesem Viertel in dieser Straße in diesem Haus in ein Mädchen mit diesem Namen verliebt. Seine Medizin ist die Vereinigung mit diesem Mädchen, und seine Behandlung ist es, sie zu sehen.“
Der Kranke hatte zugehört und alles vernommen, was der Ḫvāǧe Abū ʿAlī gesagt hatte. Aus Scham zog er sich die Decke über den Kopf. Als man nachforschte, fand man heraus, daß es genauso war, wie der Ḫvāǧe Abū ʿAlī gesagt hatte.
Ende gut, alles gut
Daraufhin trugen sie die ganze Sache Qābūs vor, und er wunderte sich gewaltig darüber und sagte: „Bringt ihn zu mir!“ Man brachte Ḫvāǧe Abū ʿAlī vor Qābūs. Dieser hatte den Steckbrief von Abū ʿAlī, den Sultan Yamīn od-Doule (d.i. Maḥmūd) geschickt hatte. Als Abū ʿAlī vor ihn trat, sagte Qābūs: „Du bist Abū ʿAlī.“ Abū ʿAlī sagte: „Ja, mächtiger König.“
Da stieg Qābūs vom Thron und trat auf Abū ʿAlī zu und umarmte ihn und setzte sich mit ihm auf ein Kissen vor dem Thron, behandelte ihn großzügig und befragte ihn freundlich und sagte schließlich: „Der erhabenste der Vorzüglichen und vollkommenste Philosoph soll die Art und Weise dieser Behandlung unbedingt erzählen!“
Abū ʿAlī sagte: „Als ich den Puls fühlte und den Urin sah, war ich sicher, daß es sich bei der Krankheit um die Liebe handelte und die Sache durch Verheimlichung so weit gekommen war. Wenn ich ihn gefragt hätte, so hätte er mir nicht die Wahrheit gesagt. Also legte ich die Hand auf seinen Puls, und man sagte die Namen der Viertel auf. Als das Viertel der Geliebten genannt wurde, erschütterte ihn die Liebe, und die Bewegung veränderte sich. Da wußte ich, daß sie in diesem Viertel lebt. Ich ließ die Namen der Straßen aufsagen, und als er den Namen der Straße seiner Geliebten hörte, passierte dasselbe wieder. Da wußte ich auch den Straßennamen und ließ die Häuser in der Straße aufzählen. Als das Haus seiner Geliebten genannt wurde, geschah wieder dasselbe, da wußte ich auch das Haus. Ich ließ die Namen aller Hausbewohner aufsagen, und als der Name seiner Geliebten fiel, veränderte sich sein Puls zum äußersten. Da wußte ich auch, wer die Geliebte war, und sagte es ihm. Er konnte es nicht abstreiten und gestand es ein.“
Qābūs wunderte sich sehr über diese Behandlung und war erstaunt, und es war auch wahrhaftig erstaunlich. Dann sagte er: „Du Erhabenster und Vollkommenster der Vorzüglichen, der Liebende und die Geliebte sind beide Kinder meiner Schwestern und Cousin und Cousine. Wähle einen günstigen Tag aus, damit wir sie miteinander verheiraten!“
Daraufhin wählte der Ḫvāǧe Abū ʿAlī einen günstigen Tag aus, und man veranstaltete die Heirat und vereinigte den Liebenden und die Geliebte, und dieser schöne junge Prinz wurde von einem solchen Leiden, daß er dem Tod nahe war, gerettet. Danach erwies Qābūs dem Ḫvāǧe Abū ʿAlī soviel Gunst wie nur möglich.
Quelle
Neẓāmī-ye ʿArūżī-ye Samarqandī, Aḥmad b. ʿOmar b. ʿAlī. Čahār maqāle. Hg. Mīrzā Moḥammad b. ʿAbdolvahhāb-e Qazvīnī. Leiden 1327 š./1909. S. 78-80.
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