Teil 1: Medizin zwischen Mythos und Wirklichkeit: Die Chirurgie unter Muslimen des Mittelalters
Teil 2: Medizin zwischen Mythos und Wirklichkeit: Die Hohlnadel und die Staroperation
Im Mittelalter war die Medizin in der islamisch geprägten Kultur viel weiter entwickelt als in Europa, so scheint es. Insbesondere Berichte über sehr fortschrittliche Operationstechniken machen die Runde, nicht zuletzt in historischen Romanen. Und tatsächlich gibt es mehr als genug medizinische Texte auf arabisch und persisch, die solche Operationen beschreiben. Wenn also in der medizinischen Literatur über Jahrhunderte hinweg Operationen immer wieder detailliert beschrieben werden, kann man daraus dann schließen, daß sie wirklich stattgefunden haben?
Diese Frage hat sich auch eine Medizinhistorikerin gestellt, die islamisch geprägte Kulturen und die arabische Medizinliteratur erforscht. Sie wollte wissen: Was sagen die Texte über die Praxis aus? Bei diesen Forschungen bewegen wir uns freilich nicht in der persischsprachigen Medizinliteratur, die immer noch kaum untersucht ist. Doch die arabischen Medizinwerke, zum Teil auch in Europa bekannte Klassiker, sind nicht selten von Autoren verfaßt worden, die aus dem persischsprachigen Kulturraum stammten. Zu ihnen gehören Muhammad ibn Zakariyâ ar-Râzî (Rhazes, ca. 864-925) und Abû ‚Alî Ibn Sînâ (Avicenna, ca. 980-1037), der gelegentlich auch auf persisch schrieb. So gesehen können dann auch arabische Werke Teile der „Persophonie“ sein. 🙂
Jedenfalls hat Emilie Savage-Smith, die erwähnte Medizinhistorikerin, herausgefunden, daß medizinische Texte recht tückisch sein können, wenn man aus ihnen etwas über die tatsächliche medizinische Praxis erfahren will. In einem Aufsatz aus dem Jahr 2000 erläutert sie, was dagegen spricht, daß eine Reihe von ausführlich beschriebenen chirurgischen Eingriffen auch tatsächlich durchgeführt wurden: Im Zusammenhang mit der Beschreibung von Operationen weisen die Autoren des öfteren darauf hin, daß sie diese oder jene Operation selbst nie durchgeführt oder noch nicht einmal gesehen haben, daß sie von irgend jemandem durchgeführt wurde. Manchmal teilt ein Autor mit, daß eine bestimmte Operation zu seiner Zeit in der Praxis gänzlich unbekannt war, und manchmal warnt er vor einer Operation. Auch das deutet nicht darauf hin, daß eine solche Operation häufig durchgeführt wurde.
Vor diesem Hintergrund ist es natürlich verdächtig, wenn eine Operation genauso beschrieben wird, wie es schon in älteren Medizinwerken nachzulesen ist – und das kommt oft vor. Denn wenn der Verfasser nichts an der Beschreibung ändert und keinerlei Bemerkungen dazu macht, spricht das nicht eben dafür, daß er die Operation selbst ausprobiert hat. Noch unwahrscheinlicher ist das, wenn die Beschreibung weniger Einzelheiten enthält als die Vorlagen in älteren Werken. Diese Beobachtungen macht Savage-Smith vor allem bei einer Reihe von chirurgischen Eingriffen, die Einschnitte mit einem Messer in Kopf oder Körper des Patienten erfordern wie etwa der Luftröhrenschnitt.
Doch wieso machten sich die Autoren medizinischer Werke überhaupt die Mühe, Operationen zum Teil ausführlich zu beschreiben, die zu ihrer Zeit nie durchgeführt wurden und deren Durchführung sie auch nicht empfahlen? – Wie es aussieht, handelt es sich dabei um eine literarische Tradition. Solche Beschreibungen konnten dem Zweck dienen, die theoretischen Kenntnisse des Verfassers vorzuführen. Es konnte sich aber auch um bloße Gedankenspiele handeln: „Was könnte man tun, wenn dieser oder jener Fall einträte?“ Schließlich kann ein Grund für solche Beschreibungen auch einfach der sein, daß sie der Vollständigkeit halber in eine Abhandlung hineingehörten.
Und die persischsprachigen Medizinwerke? Darauf, wie aussagekräftig sie für die Praxis sind, hat man sie noch nicht so untersucht, wie Emilie Savage-Smith es für die arabische Medizinliteratur getan hat. Aber schon die Suche nach Fallberichten, wie es sie in der arabischen Medizinliteratur hie und da auch in größerer Anzahl gibt, war bisher nicht von allzu großem Erfolg gekrönt. Das ist deshalb wichtig, weil Fallberichte tatsächliche Behandlungen beschreiben – oder dies zumindest vorgeben. Auch im persischen Sprachraum scheint also die literarische Tradition theoretischer Werke von größerer Bedeutung gewesen zu sein als die Aufzeichnung tatsächlicher Praxis. Das hat wahrscheinlich auch gute Gründe, auf die ich ein anderes Mal eingehen werde. In jedem Fall heißt das aber für Rückschlüsse aus medizinischen Werken auf die Praxis: Vorsicht, Papier ist geduldig!
Damit will ich natürlich nicht sagen, daß die mittelalterlichen Ärzte in den Ländern mit islamisch geprägter Kultur überhaupt keine Operationen ausgeführt hätten. Es waren nur eben nicht so viele wie in medizinischen Werken beschrieben. Entzündete Mandeln und Blasensteine wurden wohl tatsächlich operativ entfernt, und es gab auch recht viele Augenoperationen, nicht zuletzt die Behandlung des Grauen Stars durch Beiseiteschieben der getrübten Linse (das „Starstechen“).
Gerade die große Bedeutung der Staroperation hat im übrigen noch eine andere, weit interessantere Blüte getrieben. Doch das ist wieder ein Thema für sich.
Quellen
Emilie Savage-Smith: „The Practice of Surgery in Islamic Lands: Myth and Reality“. In: P. Horden/E. Savage-Smith (eds.) The Year 1000: Medical Practice at the End of the First Millenium. Oxford: Oxford University Press, 2000 (Social History of Medicine, 13.2). S. 307-321.
Susanne Kurz/Stefan Reichmuth: „Zwischen Standardisierung und Literarisierung: Der Fallbericht in der graeco-islamischen Medizin“. In: Der ärztliche Fallbericht. Epistemische Grundlagen und textuelle Strukturen dargestellter Beobachtung. Hg. v. Rudolf Behrens u. Carsten Zelle unter Mitarbeit von Nicole Bischoff u. Maria Winter. Wiesbaden: Harassowitz, 2012 (culturae. Intermedialität und historische Anthropologie, 6. Hg. Kirsten Dickhaut, Jörn Steigerwald). 227-258.
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