Wesir der Seldschuken: „Vater“ des Sultans

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Nach dem frühen und recht plötzlichen Tod Alp Arslâns im Jahr 1072 war sein designierter Nachfolger Malek-Schâh nun Anführer der Armee seines Vaters. Doch mit Qâvord Beg, dem Bruder seines Vaters, gab es einen Rivalen um den Thron des Sultans. Unter den Seldschuken war es nämlich keineswegs ausgemachte Sache, daß einem Herrscher zwingend einer seiner Söhne auf den Thron folgen mußte – geschweige denn ein bestimmter Sohn. Auch der Wille des verstorbenen Herrscher hinderte andere Familienmitglieder nicht daran, eine andere Ansicht zu vertreten. So war Malek-Schâhs Onkel Qâvord der Auffassung, der Thron des obersten Seldschukenherrschers stehe ihm als älterem Familienmitglied zu, nicht seinem blutjungen Neffen. Malek-Schâh war ja erst rund achtzehn Jahre alt (es gibt wieder einmal unterschiedliche Angaben über sein Geburtsjahr, so daß er entweder siebzehn oder neunzehn Jahre alt gewesen sein muß).

So blieb die militärische Auseinandersetzung mit Onkel Qâvord nicht aus, und erst nachdem Malek-Schâh ihn 1073 besiegt und getötet hatte, saß der junge Sultan wirklich fest auf seinem Thron. Im Folgejahr schickte der neue Abbasidenkalif in Bagdad, al-Muqtadî, seine offizielle Anerkennung des Sultanats von Malek-Schâh.

In dieser ersten Zeit der Unsicherheit wie auch in den folgenden Jahren war der Nezâm eine wichtige Stütze der Macht Malek-Schâhs. Er hatte weitreichende Netzwerke, mächtige Verbündete, zahlreiche ihm persönlich verpflichtete Protegés und war auch unter den  benachbarten Herrschern angesehen.  Eine unserer Quellen malt die Machtfülle und Erfolge des Nezâm bunt aus (nachzulesen in deutscher Übersetzung bei Schabinger, S. 58-62) und schreibt die Erfolge des Sultans und das Blühen des Reiches unter seiner Herrschaft in erster Linie dem Nezâm zu. Allerdings stammt diese Schilderung von einem Verwaltungsangestellten, und daher ist es, sagen wir, nicht ganz abwegig anzunehmen, daß er die Bedeutung des Wesirs im direkten Vergleich zu der des Sultans ein wenig überbetont.

Immerhin führte Malek-Schâh den Oberbefehl über das Heer und brachte in dieser Funktion die Ausdehnung des Seldschukenreiches auf ihren historischen Gipfel. Von Syrien bis Transoxanien eroberte Malek-Schâh eine Reihe von Landstrichen und Reichen, bis die Seldschuken zum Teil direkt, zum Teil durch unterworfene Vasallen über ein beeindruckendes Reich herrschten (Karte z.B. hier). Dabei wurden allerdings auch größere Regionen zur Regierung an die Mitglieder der Seldschukenfamilie vergeben. Zwar unterstanden sie noch Malek-Schâh, doch nach und nach entwickelten sich hier eigene Seldschukenreiche. Deshalb spricht man von den „Groß-Seldschuken“ mit der Oberherrschaft über das gesamte Reich, von den „Kermân-Seldschuken“ in der Nachfolge von Malek-Schâhs Onkel Qâvord und den bekannteren „Rûm-Seldschuken“ auf dem früher byzantinischen Gebiet in Kleinasien.

Andererseits darf man die Verdienste des Nezâm um die innere Stabilität des Reiches in Malek-Schâhs Herrschaftszeit und seinen Einfluß auf den Sultan auch nicht unterschätzen. Er hatte ein enges Verhältnis zu seinem jungen Herrn und war vermutlich sogar Malek-Schâhs Prinzenerzieher (atâbeg) gewesen. Der Sultan hielt denn auch große Stücke auf seinen Wesir. Neben der Ausdehnung des Reiches und dem propagandistischen Geschick des Nezâm zeigt die folgende Anekdote aus dem Umfeld eines Kriegszuges an den Oxus (heute Amû Daryâ)  auch dieses vertraute Verhältnis auf (zitiert wie üblich nach Schabinger von Schowingen, hier S. 65f):

Als man sich nach erfolgreichem Feldzug zum Abmarsch anschickte und der Sultan durch Besteigen seines Pferdes das Zeichen dazu gab, erhob sich in seiner Nähe ein großes Geschrei. Die Fährleute vom Oxus schrien: „Wir sind arme Leute! Unser Lebensunterhalt kommt vom Wasser! Wenn ein Jüngling von hier bis nach Antiochien läuft, kommt er als ein Greis zurück!“ – Der Kanzler (d.h.: der Wesir Nezâm ol-Molk, SK) hatte ihnen nämlich den Fährlohn nicht bar gezahlt, sondern eine Anweisung darüber auf Antiochien ausgeschrieben. Der Sultan wandte sich an den Kanzler mit den Worten: „Ei, Vater, was ist denn das für eine Herzenskälte? Haben wir etwa in diesem Landstrich nicht genügend Mittel, so daß eine Anweisung auf Antiochien ausgestellt werden müßte?“ – „O Herr“, antwortete der Kanzler, „sie brauchen gar nicht igendwohin zu laufen: unser Gefolge kauft ihnen die Anweisung mit barem Gelde ab! Der Knecht (d.h.: ich, SK) hat dies nur verfügt zur Verherrlichung des Reiches und der Ausdehnung der Herrschaft, damit man wisse, wie weit unser Staatsgebiet sich erstreckt und von wo bis wohin der Befehl seines Herrschers reicht und damit die Geschichtsschreiber noch davon berichten.“ – Zwar gefiel diese Antwort dem Sultan, aber er gab gleichwohl den Befehl, die Leute mit barem Gelde zu befriedigen.

Der Nezâm hatte also den Fährleuten am Oxus ganz im Osten des Reiches eine Geldanweisung auf Antiochien in Syrien ausgeschrieben, das heute als Antakya im südlichsten Zipfel der Türkei liegt, um sie auf die Ausdehnung des Reiches hinzuweisen. Und Malek-Schâhs Anrede für den Nezâm – atâ, das türkische Wort für Vater, das auch in dem Begriff atâbeg steckt – zeigt das vertraute Verhältnis der beiden und die große Wertschätzung des Sultans für seinen Wesir.

Natürlich beruhte die Macht des Nezâm zur Zeit Malek-Schâhs nicht nur auf der Haltung des Sultans zu seinem Wesir. Aus der Analyse verschiedener Quellen wissen wir recht gut, daß er nicht nur viele Protegés unter den Gelehrten und Verwaltungsangestellten hatte und über großen Reichtum verfügte. Vielmehr gebot er auch über eine stattliche Anzahl an Militärsklaven, die als Nizâmiyya-Truppe bekannt sind. Nicht zuletzt betrieb er auch eine geschickte Familienpolitik, indem er seine zahlreichen Söhne auf wichtige Verwaltungsposten setzte und seine Töchter mit einflußreichen Männern verheiratete. Von des Nezâm angeblich zwölf Söhnen habe ich in den Quellen immerhin neun namentlich ausfindig machen können.

So wurde in der Folge einer der fehlgeschlagenen Intrigen gegen den Nezâm dessen Sohn Mo’ayyed ol-Molk (arabisch: Mu’ayyid al-Mulk) zeitweilig zum Leiter einer der wichtigsten Behörden der Reichsverwaltung. Und ein langjähriger Wesir des Kalifen in Bagdad erhielt nacheinander gleich zwei Töchter des Nezâm zur Frau (die erste war im Kindbett gestorben), so daß ein scharfzüngiger Hofdichter des Nezâm über die Wiedereinsetzung dieses Kalifenwesirs nach einem Skandal in Bagdad folgendes Spottgedicht verfaßte:

Dem Kanzler (d.h.: Wesir, SK) sag, schrick nicht zurück vor seiner Würde,
wenngleich er hoch im Amt und daher noch so groß:
Wär‘ nicht des Alten Tochter, nicht wärst du wieder Kanzler,
da unser Herr du wurdest, lobpreise – ihren Schoß!

(deutsche Übersetzung von Schabinger von Schowingen, S. 69; „des Alten“ wäre im Tonfall wohl besser wiedergegeben mit „des ehrwürdigen alten Herrn“, aber das wäre hier natürlich zu sperrig gewesen)

Allerdings soll der Nezâm sich nach einem Zusammentreffen mit seinem bereits zwanzigjährigen Sohn Mo’ayyed ol-Molk auch einmal bedauernd über die Beschwernisse seines Amtes geäußert haben. Ihm bleibe nämlich verwehrt, was jedem Gemüsehändler vergönnt sei: daß sich jeden Abend seine Kinder um ihn versammeln. Er dagegen habe diesen Sohn, der schon ein solches Alter erreicht habe, erst ein paar Mal zu Gesicht bekommen. Man darf jedoch sicher annehmen, daß ihn die Vorzüge der Macht hinreichend für solche Verluste entschädigt haben, denn sonst hätte er vermutlich die eine oder andere Gelegenheit genutzt, sich aus der Verantwortung zurückzuziehen. Immerhin hatte er  ja auch einen Sultan als „Sohn“.

Für Malek-Schâh allerdings waren auf Dauer weder die große Macht des Nezâm noch seine Familienpolitik ein Grund zur Begeisterung. Auch der jüngste Sultan wird schließlich älter und entwächst der Fürsorge seines väterlichen Wesirs. Doch davon erzähle ich Ihnen ein anderes Mal. Schauen Sie doch einfach zur nächsten Folge wieder herein!

Literatur

Claude Cahen: „Atābak“, Encyclopaedia Iranica, online edition, 1987/Update 2011, abrufbar unter http://www.iranicaonline.org/articles/atabak-turkish-atabeg-lit (zuletzt aufgerufen am 02.11.2014)

David Durand-Guédy: „Malekšāh“, Encyclopaedia Iranica, online edition, 2012, abrufbar unter http://www.iranicaonline.org/articles/maleksah (zuletzt aufgerufen am 01.11.2014).

Quellen

zitiert und zusammengefaßt aus:

Susanne Kurz: „Der Hof des Nizâm al-Mulk“. Unveröffentlichte Magisterarbeit, Universität Tübingen, 2001.

Susanne Kurz: · „Der Wesir als Konkurrent des Sultans? Der Hof des Nizâm al-Mulk-e Tûsî“. In: TOBIAS-lib. Online-Publikationsservice der Universität Tübingen. November 2009, http://tobias-lib.ub.uni-tuebingen.de/volltexte/2009/4311/. S. 10-17.

Karl Emil Schabinger Freiherr von Schowingen: Das Buch der Staatskunst: Siyâsatnâma. Aus dem Persischen übersetzt und eingeleitet von Karl Emil Schabinger Freiherr von Schowingen. Zürich 1987. Einleitung, S. 70f, 81 sowie die im Text genannten.


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