Teil 1: Medizin zwischen Mythos und Wirklichkeit: Die Chirurgie unter Muslimen des Mittelalters
Teil 2: Medizin zwischen Mythos und Wirklichkeit: Die Hohlnadel und die Staroperation
Wenn belegt ist, daß es bestimmte chirurgische Instrumente wirklich gab, dann lassen diese Instrumente auf die damals gängige medizinische Praxis und die Möglichkeiten erfolgreicher Operationen schließen, richtig? – Falsch!
Soviel wissen Sie ja schon aus dem letzten Beitrag zur Chirurgie: Operationen müssen nicht zwangsläufig durchgeführt worden sein, nur weil sie in der medizinischen Literatur beschrieben werden. Was aber, wenn es Fallberichte über erfolgreiche Operationen gibt? Wenn also ein Mediziner behauptet, eine bestimmte Operation mehrfach erfolgreich durchgeführt zu haben? Ist das nicht glaubwürdig? Und was, wenn es Belege darüber gibt, daß die benötigten Instrumente tatsächlich existiert haben? Wenn es sogar mehr als nur Belege gibt?
Das sind berechtigte Fragen, und auf den ersten Blick erscheint es nicht sonderlich logisch, daß man Instrumente ohne wirkliche Nutzanwendung hergestellt haben sollte. Gerade deswegen sind einige neuere Erkenntnisse der Medizinhistoriker Peter E. Pormann und Emilie Savage-Smith so interessant.
Im letzten Beitrag über “Medizin zwischen Mythos und Wirklichkeit” habe ich darauf hingewiesen, daß es eine ganze Reihe von Augenoperationen gab, die Muslime schon im Mittelalter erfolgreich durchgeführt haben. Dazu gehörte auch das “Starstechen”, also das Beiseiteschieben der getrübten Linse. Gerade das große Interesse an der Staroperation hat auch eine ganz besondere Blüte getrieben: ein chirurgisches Instrument, mit dessen Hilfe man den Star nicht nur beiseite schieben, sondern auch entfernen konnte.
Zumindest behauptete das ein ägyptischer Augenarzt des 10. Jahrhunderts. Er schreibt, er habe eine Hohlnadel hergestellt, mit der man den Grauen Star aus dem Auge absaugen könne. Dazu muß man wissen, daß man im Mittelalter davon ausging, der Graue Star wäre eine Membran oder Flüssigkeit zwischen Linse und Pupille. Man wußte also noch nicht, daß es sich um eine Eintrübung der Linse selbst handelt. Die Linse “abzusaugen” dürfte ja recht schwierig sein, eine Flüssigkeit oder weiche Membran dagegen ließe sich vielleicht tatsächlich durch eine Hohlnadel saugen. Derselbe Augenarzt lieferte denn auch eine Reihe von “Fallberichten”, in denen er seine Hohlnadel angeblich erfolgreich verwendet habe. Damit hätten wir also einen literarischen Beleg über die erfolgreiche Staroperation durch Absaugen mit einer Hohlnadel.
Mehrere hundert Jahre später, nämlich im 14. Jahrhundert, berichtete ein anderer Augenarzt aus Ägypten, daß es solche Hohlnadeln wirklich zu kaufen gebe und auch viele Augenärzte diese Nadeln mit sich führten. Unser Zeuge hat sogar eine Staroperation mit so einer Hohlnadel selbst beobachtet. Außerdem gibt es Abbildungen dieser Nadeln. Und schließlich hat man in Südfrankreich römische Nadeln für die Staroperation aus dem 1. oder 2. Jahrhundert gefunden, von denen zwei hohl sind und durchaus Vorläufer der Hohlnadeln unserer ägyptischen Ärzte sein könnten.
Das klingt doch alles danach, als ob diese Operation wirklich durchgeführt worden sei, nicht wahr? Wahrscheinlich ist sie das auch hin und wieder, nur nicht besonders oft und vor allem nicht erfolgreich – wie angesichts der heutigen Kenntnisse ja abzusehen. Unser Zeuge aus dem 14. Jahrhundert berichtet denn auch, die eine Operation, die er gesehen habe, sei fehlgeschlagen. Auf Nachfrage gab der Operateur dann zu, er habe noch nie jemanden gesehen, der mit einer Hohlnadel den Grauen Star entfernt habe. Und auch die übrigen Ärzte, die im Besitz von Hohlnadeln für die Staroperation waren, erklärten, sie hätten die Operation damit nicht oder nicht erfolgreich ausgeführt, denn sie hätten nie eine erfolgreiche Operation gesehen und wüßten daher wohl nicht, wie man sie durchführen müsse.
Doch unser unser ägyptischer Augenarzt aus dem 14. Jahrhundert war neugierig und wollte wissen, ob die Fehlschläge wirklich den mangelnden Fertigkeiten der Ärzte zuzuschreiben waren. Also probierte er die Nadeln mit Wasser und einer dickeren Flüssigkeit aus und stellte fest, daß die Nadeln zwar Wasser aufsaugen können, aber nichts Dickflüssigeres. Und der Star, so meint er, sei nicht so dünn wie Wasser. Das ergänzt er noch um zehn logische Gründe, weshalb die Hohlnadeln seiner Ansicht nach nicht funktionieren könnten. Für uns lautet der logischste Grund sicherlich: Wie soll man Grauen Star mit einer Hohlnadel absaugen können, wenn der Star gar keine Flüssigkeit, sondern eine Eintrübung der Linse ist? Doch das wußte unser Zeitzeuge ja noch nicht.
Es sieht also nicht so aus, als sei diese Operation oft durchgeführt worden, und wenn, dann war sie nicht erfolgreich. Auch sonst finden sich in der medizinischen Literatur viele skeptische Stimmen zu den Hohlnadeln. Doch warum wurden dann Hohlnadeln für die Starentfernung hergestellt und gekauft? Alles nur ein geschickter Marketingtrick der Hersteller? Vielleicht. Die befragten Ärzte, die solche Nadeln besaßen, ohne sie je erfolgreich einzusetzen, gaben anscheinend an, sie hätten sie sich zu experimentellen Zwecken angeschafft. Mit anderen Worten: Die Augenärzte waren neugierig und dachten sich wohl, da diese Nadeln so verbreitet und bekannt waren, müßten sie auch zu etwas nutze sein. Womöglich war es auch einfach in Mode oder entsprach der Erwartung anderer Ärzte und vielleicht auch der Patienten, daß ein Augenarzt solches Werkzeug mit sich führte – vergleichbar dem weißen Kittel und dem Stethoskop heutiger Ärzte.
Eines scheint jedenfalls ziemlich sicher zu sein: Auf eine Standardoperation oder gar eine erfolgreiche Methode der Starentfernung kann man auch aus der Existenz solcher Nadeln nicht schließen.
Quellen
Peter E. Pormann/Emilie Savage-Smith: Medieval Islamic Medicine. Edinburgh: Edinburgh University Press, 2007. 131-134.
Emilie Savage-Smith: “The Practice of Surgery in Islamic Lands: Myth and Reality”. In: P. Horden/E. Savage-Smith (eds.) The Year 1000: Medical Practice at the End of the First Millenium. Oxford: Oxford University Press, 2000 (Social History of Medicine, 13.2). S. 307-321.
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