Wesir der Seldschuken: Die Sache mit Toghrils Wesir Kondorî

Zur zweiten Folge geht es hier.
Zur vierten Folge geht es hier.

Die letzte Folge endete mit einer Frage, wie sie für die Lebensgeschichte des Nezâm typisch ist: Hatte er bei der Absetzung, Verhaftung und Hinrichtung von Toghrils Wesir ‘Amîd ol-Molk-e Kondorî die Hände im Spiel? Oder gab es andere Gründe, weshalb Alp Arslân den Wesir seines Onkels nach einigem Zögern schließlich doch aus dem Weg räumen ließ?

Sicher ist, daß ein Gerücht im Umlauf war, der Nezâm sei für Kondorîs Hinrichtung verantwortlich. Hie und da wird diese Beschuldigung sogar direkt ausgesprochen, allerdings nur in Geschichtswerken, die mehr als hundert Jahre nach den Ereignissen verfaßt wurden. Ebenfalls in der späteren Überlieferung gibt es verschiedene Varianten von Kondorîs ebenso denkwürdigen wie wohlgesetzten letzten Worten. Sinngemäß lauteten diese etwa wie folgt:

Man solle dem Sultan Alp Arslân ausrichten, sein Onkel Sultan Toghril habe Kondorî die diesseitige Welt gegeben, und Alp Arslân gebe ihm nun die jenseitige Welt. Dem Wesir Nezâm ol-Molk aber solle man sagen, daß er eine schlechte Neuerung eingeführt habe, indem er die Sultane lehrte, Wesire zu töten. Doch das werde (oder solle) er noch am eigenen Leibe (oder an seinen Nachkommen) erfahren.

Vieles spricht dafür, daß diese von Kondorî überlieferten letzten Worte letztlich zu dem Gerücht von der (Mit-)Schuld des Nezâm an Kondorîs Tod beigetragen haben, denn sie verweisen auf ihn als die treibende Kraft hinter der Hinrichtung. Doch sie sagen uns wahrscheinlich mehr über die Rhetorik der mittelalterlichen muslimischen Geschichtsschreiber als über Kondorîs Gedanken kurz vor seinem Ende. Finde ich jedenfalls.

Denn ein Teil dieser pointierten Rede war schon bei Kondorîs Hinrichtung im Jahr 1064 nicht mehr sonderlich originell. Wenige Jahre zuvor hatte ein persischer Geschichtsschreiber ganz ähnliche Worte aufgezeichnet, die von der Mutter eines anderen ehemaligen Wesirs stammen sollen. Bereits dreiundreißig Jahre vor Kondorîs Hinrichtung hatte Mas’ûd von Ghazna diesen Wesir seines verstorbenen Vaters Mahmûd ebenfalls töten lassen. Und die Mutter dieses Wesirs wird zitiert wie folgt: “Welch ein großer Mann war doch dieser mein Sohn, daß ein König wie Mahmûd ihm die diesseitige Welt gab und ein König wie Mas’ûd die jenseitige Welt!” So berichtet es jedenfalls Abo l-Fazl-e Beyhaqî in seinem “Târîch-e Mas’ûdî” (“Geschichte des Mas’ûd von Ghazna”). Dieser Wesir endete übrigens am Galgen – wo er ziemlich lange hängen blieb – und nicht durch Enthaupten wie Kondorî. Doch davon ein anderes Mal mehr.

Mir scheint also, daß dieser Teil von Kondorîs letzten Worten ihm von den späteren Geschichtsschreibern in den Mund gelegt wurde. Doch entscheiden Sie selbst, was Ihnen plausibler erscheint: daß Kondorî dieses Zitat kannte (was nicht auszuschließen ist) und für seine letzten Worte verwendete oder daß die späteren Geschichtsschreiber nicht widerstehen konnten und diese gekonnte Formulierung in die dramatische Schilderung von Kondorîs Tod aufnahmen. Wie auch immer: Man kann diesen Satz durchaus so verstehen, daß der Hingerichtete durch seinen Tod zum Märtyrer wird und daher sofort ins Paradies eingehen kann. Das wirft nicht unbedingt ein vorteilhaftes Licht auf denjenigen, der für die Hinrichtung verantwortlich ist.

Und damit sind wir wieder bei unserem eigentlichen Thema: Der Rolle des Nezâm bei Kondorîs Hinrichtung. Wenn schon der begründete Verdacht besteht, daß Kondorîs angebliche Botschaft an den Sultan eine Erfindung der rhetorisch gebildeten Geschichtsschreiber späterer Jahrhunderte ist, so fragt man sich doch unwillkürlich, ob das nicht ebenso für Kondorîs Botschaft an den Nezâm gelten könnte. Besonders verdächtig ist dabei, daß Kondorî den gewaltsamen Tod des Nezâm (oder wahlweise seiner Nachkommen) vorausgesehen oder durch einen Fluch sogar erst heraufbeschworen haben müßte. Und tatsächlich: Sowohl der Nezâm als auch eine Reihe seiner politisch einflußreichen Söhne kamen gewaltsam ums Leben. Das konnte Kondorî ohne hellseherische Fähigkeiten nicht wissen, sehr wohl aber die Verfasser der Geschichtswerke, in denen seine Worte überliefert werden.

Nun ja, vielleicht können manche Menschen ja tatsächlich die Zukunft vorhersehen. Oder Flüche werden gelegentlich Wirklichkeit. Oder es handelt sich in diesem Fall um ein Zusammentreffen von Zufällen. Aber mal ehrlich: Wäre die Echtheit von Kondorîs letzten Worten nicht viel wahrscheinlicher, wenn sowohl der Nezâm als auch seine Söhne friedlich im Bett an Altersschwäche gestorben wären?

In jedem Fall ist die Echtheit von Kondorîs angeblichen letzten Worten so zweifelhaft, daß sie nicht als Beleg für eine Beteiligung des Nezâm an Kondorîs Absetzung und Hinrichtung durchgehen können. Sie kommen übrigens in unserer ältesten Quelle auch gar nicht vor. Und der Nezâm wird dort auch nicht für den Tod des Kondorî verantwortlich gemacht. Allerdings enthält sie eine Passage, die womöglich zur Entstehung dieses Gerüchtes beigetragen hat:

Nisâmu’l-mulk [= der Nezâm] war eifersüchtig auf die Selbständigkeit des Wasîr ‘Amîdu’l-mulk [= Kondorî] und trachtete eine Zeitlang danach, ihn zu fassen und einzukerkern.

Die weitere Schilderung enthält dann, wie gesagt, keine Beteiligung des Nezâm an Kondorîs tatsächlicher Einkerkerung und Hinrichtung. Doch aus einem Satz wie diesem und dem folgenden Bericht von Einkerkerung und Hinrichtung des Kondorî kann in der weiteren Überlieferung leicht eine Intrige des eifersüchtigen Nezâm werden.

Die eben zitierte deutsche Übersetzung dieser Passage stammt übrigens aus einem schon etwas älteren, aber sehr materialreichen Aufsatz von mehr als dreißig Seiten (hier S. 252). Geschrieben hat ihn Karl Emil Schabinger Freiherr von Schowingen, um eben die Frage zu klären, die uns auch interessiert: War der Nezâm (mit-)schuldig am Tod seines Amtsvorgängers Kondorî? Wir haben ja eben gesehen, daß die Überlieferungen, die dies behaupten, recht zweifelhaft sind. Doch ein Unschuldsengel war der Nezâm ganz offensichtlich nicht, denn die Einkerkerung des Kondorî scheint durchaus seinen Wünschen entsprochen zu haben.

Wenn Sie daher wieder Zweifel bekommen haben, ob der Nezâm nicht doch hinter der Sache steckte, sollten wir jetzt vielleicht überprüfen, ob es keine anderen Gründe für das Verhalten des Sultans Alp Arslân gegeben hat. Zunächst ließ er Kondorî ja im Amt, doch später entschied er sich, ihn abzusetzen und einzusperren. Und schließlich ließ er ihn sogar hinrichten. Unsere älteste Quelle – ich zitiere wieder nach Schabinger von Schowingen – beschreibt den Hergang so:

Im Muharram des Jahres 456 (Dez. 1063) machte ‘Amîdu’l-mulk [= Kondorî] dem Nisâmu’l-mulk [= dem Nezâm] einen Höflichkeits- und Entschuldigungsbesuch und ließ in seinen Händen ein Tuch mit 500 Dînâr. Nach seinem Weggang gingen die meisten Soldaten in seinen Dienst über, so daß der Sultan vor dem, was daraus schließlich folge, erschrak und den Befehl gab, ihn zu verhaften… (S. 252)

Es folgt die Hinrichtung nach Ablauf eines Jahres. Mit anderen Worten: Kondorî sicherte sich die Unterstützung großer Teile der Truppen und wurde eine Bedrohung für den Sultan, der nicht sicher sein konnte, wohin das führen würde. Womöglich versuchte er sogar, den Nezâm zu bestechen. Ganz klar wird das aus der Passage nicht. Und wenn wir uns genauer anschauen, was für eine Persönlichkeit Kondorî war, wird vielleicht noch klarer, warum der Sultan sich nun von ihm bedroht fühlte.

Bereits zu Toghril Begs Lebzeiten hatte Kondorî es mehr als einmal riskiert, bei seinem Herrn in Ungnade zu fallen. Als Toghril ihn ausschickte, um seine Heirat mit einer Prinzessin auszuhandeln, heiratete Kondorî die Dame kurzerhand selbst. Zur Strafe ließ der Sultan ihn entmannen, behielt ihn jedoch weiterhin in seinen Diensten. Und als wenige Jahre nach der Eroberung Bagdads Toghrils Macht einmal ernstlich bedroht war, machte Kondorî Anstalten, einen anderen Sultan einzusetzen. Dennoch gelang es ihm immer wieder, Toghrils Gewogenheit zurückzugewinnen. Vielleicht wollte dieser nicht auf Kondorîs Fähigkeiten verzichten. Nach Toghrils Tod behielt ihn auch Alp Arslân als Wesir, obwohl Kondorî zunächst Alp Arslâns Bruder zum Sultan hatte ausrufen lassen. Doch nach all diesen Geschichten hatte Alp Arslân allen Grund, die Handlungen Kondorîs mit Mißtrauen zu verfolgen. Und ganz sicher wollte er keinen Machtzuwachs des ehrgeizigen Wesirs riskieren. Hatte dieser doch selbst einmal gedichtet:

Tod ist gar bitter, doch da meine Seele
Dürstet nach Ruhm, so schmeckt er ihr süß;
Führertum füllt mir den Kopf, sein Lockruf
Geht mit ihm um, und ich fürcht’ – mit ihm durch!
(wieder Schabinger von Schowingens Aufsatz, S. 271)

Im übrigen dürfte auch Alp Arslân klar gewesen sein, daß es auf Dauer schwierig werden würde, den Nezâm und Kondorî gemeinsam in seinem Dienst zu behalten. Womöglich zögerte Alp Arslân zwar erst, weil auch er nicht auf Kondorîs schlaue Amtsführung verzichten wollte. Immerhin hatte der Mann sich auch große Verdienste erworben. Doch im Nezâm hatte Alp Arslân bereits einen fähigen Wesir an seiner Seite. Und diesem konnte er vollauf vertrauen. Kondorî dagegen gab immer wieder Anlaß zum Argwohn. Daß Kondorî plötzlich mehr Einfluß bei den Truppen gewann, war vielleicht nur der Tropfen, der das ohnehin schon volle Faß zum Überlaufen brachte. Jedenfalls hatte Alp Arslân selbst genug Grund, den wenig zuverlässigen Wesir zu beseitigen. Auch wenn der Sultan lange zögerte, ist es nicht notwendig, den Nezâm als treibende Kraft zu vermuten. Kondorî war ganz allein in der Lage, sich um Kopf und Kragen zu bringen.

Damit ist die Unschuld des Nezâm am Geschehen natürlich nicht erwiesen. Doch seine (Mit-)Verantwortung ist nicht doch sehr zweifelhaft. Auch der oben schon verlinkte Artikel zu Kondorî in der Encyclopaedia Iranica greift die Anschuldigung gegen den Nezâm übrigens nicht mehr auf, obwohl darauf hingewiesen wird, daß dieser an Kondorîs Stelle treten sollte. Doch genau werden wir die Wahrheit wohl nie erfahren – wie bei so vielem, was in dieser fernen Vergangenheit geschehen ist.

Ich persönlich halte es jedenfalls für unwahrscheinlich, daß der Nezâm hinter Kondorîs Sturz und Tod steckte – auch wenn ihm beides vonnutzen war. Der Grund dafür ist einfach: Ich glaube nicht, daß der Nezâm Alp Arslân dazu hätte überreden können, den verdienten Wesir ohne triftigen Grund zu töten. Doch das Verhältnis zwischen dem Nezâm und Alp Arslân ist wieder eine neue Geschichte.

Quellen

Susanne Kurz: “Der Hof des Nizâm al-Mulk”. Unveröffentlichte Magisterarbeit, Universität Tübingen, 2001.

Karl Emil Schabinger Freiherr von Schowingen: „Zur Geschichte des Saldschuqen-Reichskanzlers Nisâmu’l-Mulk“. Historisches Jahrbuch 62-69 (1949) 250-283.

Abu l-Fazl Mohammad b. Hoseyn-e Beyhaqî: Târîch-e Beyhaqî (= Târîch-e Mas’ûdî). Hg. v. ‘Alî Akbar-e Fayyâz. 4. Aufl. Mašhad 1374 š./1995-6. 236.


Donate Button with Credit Cards

7 Kommentare

  1. Pingback: Wesir der Seldschuken: Der Aufstieg des Nezâm ol-Molk Teil 1 | Persophonie: Kultur-Geschichte

  2. Pingback: Wesir der Seldschuken: Der Aufstieg des Nezâm ol-Molk Teil 2 | Persophonie: Kultur-Geschichte

  3. Pingback: [Persophonie] Wesir der Seldschuken: Die Sache mit Toghrils Wesir Kondorî - #Iran | netzlesen.de

    • Pingback: Wesir der Seldschuken: Der Nezâm unter Alp Arslân Teil 1 | Persophonie: Kultur-Geschichte

    • Pingback: Wesir der Seldschuken: Der Nezâm unter Alp Arslân Teil 2 | Persophonie: Kultur-Geschichte

    Schreibe einen Kommentar

    Pflichtfelder sind mit * markiert.