Warum Islamwissenschaftler nicht immer die Einschätzungen der islamischen Religionsgelehrsamkeit berücksichtigen müssen
Im vergangenen Jahr hat meine Arbeitsgruppe zusammen mit anderen Forschern auf dem Deutschen Orientalistentag in Münster ein Panel gestaltet. Das heißt: Wir haben über einige Stunden verteilt mehrere Vorträge zu Themen gehalten, die zumindest locker zusammenhingen.
Dabei hatten wir ein Erlebnis, das ich hier aufgreifen möchte. Es beleuchtet nämlich ein grundsätzliches Problem, das bei der Kommunikation zwischen kulturhistorisch forschenden Islamwissenschaftlern und heutigen Vertretern der islamischen Religionsgelehrsamkeit auftreten kann.
In unserem Panel ging es um Körper, Sexualität und Medizin überwiegend in historischer Perspektive, also mit Blick auf die nähere und fernere Vergangenheit. Zwei oder drei Vorträge enthielten daher auch Hinweise auf hadithe, also vom Propheten des Islam Mohammed überlieferte Aussprüche oder beispielhafte Handlungen. Diese hadithe kamen in den Quellen vor, die für die Vorträge analysiert worden waren. Und sie waren extrem frauenfeindlich.
Im Publikum befand sich ein Imam aus Berlin, der sich vor seiner Wortmeldung in der Diskussion vorstellte und darauf hinwies, daß die aktuelle hadith-Wissenschaft – also die Disziplin der islamischen Religionsgelehrsamkeit, die sich mit den hadithen und ihrer Echtheit befaßt, weil es schon früh viele Fälschungen gab -, daß also die aktuelle hadith-Wissenschaft diese hadithe nicht für echt halte. Mit anderen Worten: Die hadith-Gelehrten sind nicht der Ansicht, daß diese Aussprüche tatsächlich von Mohammed stammen, sondern sie halten diese Überlieferungen für Fälschungen aus späterer Zeit. Damit eignen sie sich auch nicht zur Untermauerung von Argumenten in einer religiösen Debatte, und Muslime brauchen ihre Aussagen nicht zu beachten.
Die anwesenden Islamwissenschaftler nahmen dies zur Kenntnis und hörten sich auch die recht ausschweifenden Erläuterungen des Diskutanten an. Schließlich ist es nicht uninteressant zu erfahren, was die Religionsgelehrten heute von solchen Überlieferungen halten. Und natürlich freut es uns – vor allem uns Frauen – zu hören, daß die Muslime oder zumindest die Gelehrten heute Abstand von den besonders frauenfeindlichen Überlieferungen nehmen, weil sie diese als gefälscht betrachten.
Ein Problem bahnte sich erst an, als der Imam den Fortgang der Diskussion behinderte, indem er immer weiter redete. Er beharrte darauf, daß wir alle unbedingt die genannten Ergebnisse der hadith-Wissenschaft in unsere Analyse und Interpretation der Quellen einbeziehen müßten. Leider war er nicht bereit, sich nun seinerseits die Erklärung dafür anzuhören, warum wir dem nicht vorbehaltlos zustimmen konnten.
Das ist schade, denn hier hätte ein Dialog entstehen können, der vielleicht für beide Seiten bedenkenswerte Argumente enthalten hätte. Ob die Ansicht der Religionsgelehrten für die islamwissenschaftliche Forschung bedeutsam ist, hängt nämlich wesentlich vom Forschungsansatz und den Fragestellungen des Forschers ab.
Wenn ich herausfinden will, welche Vorstellungen die Verfasser einer bestimmten Literaturgattung ihrem Publikum vermitteln, dann muß ich zunächst einmal zur Kenntnis nehmen, was die Verfasser als hadithe anführen. Ob diese Aussprüche tatsächlich von Mohammed stammen, ist dabei gleichgültig. Wichtig ist, daß die Verfasser der untersuchten Werke sie als Aussprüche Mohammeds weitergegeben und ihnen damit eine besondere Autorität verliehen haben. Auch für die Untersuchung der Argumentationsweise innerhalb einer Literaturgattung ist zunächst einmal wichtig, welche Argumente wie dargelegt werden. Beispielsweise kommt eine der Anstoß erregenden Überlieferungen über mehrere Jahrhunderte hinweg in der Ethikliteratur immer wieder vor, und sie wird immer als Ausspruch Mohammeds bezeichnet. Selbst wenn dieser Ausspruch gar nicht von Mohammed stammt, ändert das also nichts daran, daß er über Jahrhunderte hinweg als Ausspruch Mohammeds verbreitet worden ist und daß er jahrhundertelang gängige Vorstellungen ausdrückt. Und selbst wenn ernsthafte hadith-Gelehrte heute der Ansicht sind, daß die fragliche Überlieferung eine Fälschung ist, so muß man doch zur Kenntnis nehmen, wenn sie auch in der Gegenwart noch als Ausspruch Mohammeds verbreitet wird.
Nun kann es ja auch unter historischem Blickwinkel interessant sein zu erfahren, was die hadith-Gelehrten zum Entstehungszeitpunkt der untersuchten Werke oder zu einem früheren Zeitpunkt zu dieser Überlieferung zu sagen hatten. Besonders, wenn der Verfasser selbst ein Gelehrter war und sicher ist, daß er über die Ansichten der hadith-Gelehrten Bescheid wußte, kann man daraus Schlüsse ziehen. Wenn sich die Gelehrten nicht einig waren, dann schloß sich der Verfasser vielleicht einer bestimmten religiösen Richtung an, indem er die Überlieferung anführte. Wenn sie sich einig waren und die Überlieferung als Fälschung betrachteten, dann verkaufte er die Überlieferung vielleicht absichtlich als Ausspruch Mohammeds, obwohl er es besser wußte. Dafür hat es dann sicher Gründe gegeben, denen man nachgehen sollte. All das kann sehr aufschlußreich sein.
Ob es wirklich aufschlußreich ist und, vor allem, ob man sich damit befassen MUSS, hängt aber davon ab, welche Fragestellung ein Forscher verfolgt. Oft genug kann es völlig ausreichen, zur Kenntnis zu nehmen, daß ein bestimmter Ausspruch als hadith angeführt und in dieser Form immer weiter überliefert wurde.
Doch wenn man herausarbeiten will, welche Vorstellungen in einer Literaturgattung aus dem 10. oder 16. oder 19. Jahrhundert vermittelt werden, dann ist eines ganz und gar unerheblich: was heutige Religionsgelehrte von einer Überlieferung halten. Damit muß man sich befassen, wenn man über die aktuellen Debatten der islamischen Religionsgelehrten forscht oder wenn man herausfinden will, was Mohammed nun wirklich gesagt hat. Aber das sind ganz andere Forschungsrichtungen und andere Forschungsfragen, und deshalb muß man die unterschiedlichen Forschungsrichtungen innerhalb der Islamwissenschaft auseinander halten.
Auch wenn man sich mit Texten aus der Gegenwart oder jüngsten Vergangenheit befaßt, kann die Beschäftigung mit den Ansichten heutiger Religionsgelehrter im oben ausgeführten Sinne aufschlußreich sein. Da es aber viele Muslime in vielen Regionen mit oft sehr unterschiedlichen Ansichten gibt, wird man nicht immer alle Ansichten berücksichtigen können, sondern sich vielleicht auf die Ansichten der Gelehrten beschränken, die auch den Verfassern der untersuchten Werke bekannt (gewesen) sind. Oder der Gelehrten, die zur selben religiösen Gruppierung gehör(t)en. Aber auch hier gilt: Die Beschäftigung mit den Ansichten der Religionsgelehrten KANN für bestimmte Fragen hilfreich sein, MUSS es aber keineswegs immer und für alle Fragen.
Vielleicht, so könnte man einwenden, ging es dem Imam in unserer Diskussion aber gar nicht darum, daß wir die Auffassung der Religionsgelehrten in unserer Forschung berücksichtigen sollten. Womöglich wollte er nur darauf hinweisen, daß ein Vortrag, der extrem frauenfeindliche Aussprüche als Überlieferungen von Mohammed vorstellt, mißverstanden werden kann. Daß, zum Beispiel, ein Hörer auf die Idee kommen könnte, Mohammed habe das tatsächlich gesagt und deshalb seien die Muslime auch bis heute dieser Ansicht. Dieser Einwand ist grundsätzlich sogar berechtigt. Man sollte schon deutlich sagen, worüber man spricht: über eine allgemein als gesichert geltende Überlieferung von Mohammed, die auch heute noch Gültigkeit beanspruchen kann, oder über Zitate aus historischen oder aktuellen Werken. Mir schien das in unserem Panel aber ausreichend deutlich zu sein. Immerhin befanden wir uns auf einem Fachkongreß und nicht in einer Unterhaltungssendung im Fernsehen oder bei einem Volkshochschulvortrag. Natürlich sind solche Fachvorträge nicht auf die Bedürfnisse einer breiteren Öffentlichkeit zugeschnitten, sondern auf die der Fachkollegen.
Dagegen richtet sich dieser Blog durchaus an eine breitere Öffentlichkeit. Deshalb sei zum guten Schluß nachdrücklich festgestellt: Ich halte die Religion Islam nicht für frauenfeindlicher als das Christentum, und selbstverständlich darf man die Ansichten heutiger Muslime nicht einfach mit den Ansichten einer historischen Tradition oder mit denen in aktueller Literatur gleichsetzen. Doch das sollte eigentlich selbstverständlich sein. Schließlich will auch ein deutscher Protestant (und sicher auch mancher Katholik) nicht ungefragt für einen Vertreter der Ansichten von Papst Benedikt XVI. oder des Thomas von Aquin gehalten werden.
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