Gelehrter Vagabund: Ibn Sînâs (Avicennas) Lebensreise

Aus aktuellem Anlaß möchte ich Ihnen heute die Stationen eines abenteuerlichen Lebens erzählen – des Lebens von Ibn Sînâ. Er war ein berühmter Universalgelehrter des 11. Jahrhunderts, der in Europa auch unter dem Namen Avicenna und spätestens seit dem „Medicus“ vor allem als Arzt bekannt ist. Letzteres wirft eine Frage auf, aber die möchte ich in einem anderen Beitrag diskutieren.

Der aktuelle Anlaß für diesen Beitrag ist eine Ausstellung, die meine Kolleginnen an der Ruhr-Universität Bochum und ich zum Abschied in der Universitätsbibliothek veranstalten. Dort zeigen wir Gegenstände, Texte und Bilder, die wir in den letzten sieben Jahren zur graeco-islamischen Medizin vor allem in Südasien gesammelt haben oder die in dieser Tradition besondere Bedeutung haben. Natürlich gehört zu den wichtigen Texten auch der berühmte „Kanon der Medizin“ des Ibn Sînâ.

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Deshalb haben wir entschieden, daß ich eine Anekdote über Ibn Sînâs erstaunliches Wirken als Arzt aus einem persischen Werk ins Deutsche übersetzen werde und wir diese Übersetzng auf Handzetteln zum Mitnehmen auslegen. Am liebsten würde ich Ihnen diese Anekdote jetzt gleich erzählen, doch das spare ich mir bis nach der Ausstellung auf. Falls Sie zwischen dem 27. März und dem 30. April nach Bochum kommen, sollten Sie sich unsere Ausstellung nämlich unbedingt ansehen.

Also beschränke ich mich heute auf Hintergrundwissen zu Ibn Sînâ. Das läßt sich in einer Ausstellung nur in Ansätzen vermitteln, in einem Blogbeitrag aber ganz gut. 😉

Die Anfänge

Zunächst einmal war Ibn Sînâ nicht nur der Verfasser einer wirkmächtigen medizinischen Enzyklopädie, sondern er publizierte zu einer langen Liste von Wissenschaften. In der Übersicht über den Avicenna-Artikel der Encyclopaedia Iranica sind Logik, Metaphysik, Mystik, Psychologie, „praktische Wissenschaften“ (zu denen Ethik, Ökonomik und Politik zählen), Mathematik und Naturwissenschaften (darunter Astronomie, Astrologie, Alchemie und Optik), Musik, Medizin und Biologie angegeben. Daneben war er auch regelmäßig in hohen Positionen in der Verwaltung verschiedener Herrscher tätig – ein Betätigungsfeld, das er gewissermaßen von seinem Vater „geerbt“ hatte.

Dieser war nämlich ein Verwaltungsangestellter der Sâmânidendynastie und zog nach Ibn Sînâs Geburt mit seiner Familie in die Hauptstadt Bochârâ, die wie üblich nicht nur Künstler, sondern auch Gelehrte anzog. Sein Sohn Abû ‚Alî Hoseyn (arabisch: Husain), der später als Ibn Sînâ bekannt werden sollte, erhielt daher eine ausgezeichnete Ausbildung. Üblicherweise wird Ibn Sînâs Geburtsjahr mit ca. 980 angegeben, doch Dimitri Gutas weist im Biographie-Teil des Iranica-Artikels darauf hin, daß es Gründe gibt, an diesem Geburtsjahr zu zweifeln. Er ist der Auffassung, daß Ibn Sînâ sehr wahrscheinlich einige Jahre älter war. Sein Geburtsort Afschana, ein Dorf in der Nähe von Bochârâ, scheint aber nicht zweifelhaft zu sein.

Um 996 oder 997 trat Ibn Sînâ bereits als Arzt in den Dienst des damaligen Sâmânidenherschers, also mit kaum siebzehn Jahren, wenn das Geburtsjahr 980 korrekt sein sollte. Doch selbst wenn er schon ein paar Jahre älter war, ist das immer noch ein früher Karrierebeginn, zumal ihm bald darauf auch ein Verwaltungsposten übertragen wurde. Einige Jahre nach seiner Aufnahme in den Dienst der Sâmâniden starb nämlich sein Vater, und es gibt Grund zu der Vermutung, daß er ihm in seinem Amt nachfolgte.

Das Wanderleben beginnt

Irgendwann vor dem Jahr 1009 verließ Ibn Sînâ jedoch Bochârâ und wanderte nach Gorgândsch ab. Das war die Hauptstadt von Chvârazm. Daß dies vor 1009 geschah, wissen wir, weil der Chvârazm-Schâh, also der Herrscher von Chvârazm, in dessen Dienst er nun trat, bis zu diesem Jahr an der Macht war. In seiner Autobiographie sagt Ibn Sînâ allerdings, daß ihn „die Notwendigkeit“ dorthin führte. Und das legt die Vermutung nahe, daß er in Bochârâ Schwierigkeiten bekommen hatte. Diese standen sehr wahrscheinlich mit dem Sturz der Sâmâniden und der Einnahme Bochârâs durch die Qarâchâniden im Jahr 999 in Verbindung – immerhin stand Ibn Sînâ im Dienst der Sâmâniden. Deshalb nimmt man an, daß er Bochârâ in diesem Jahr verlassen hat.

Und ja, Sie haben richtig gelesen: Wir haben tatsächlich eine Autobiographie von Ibn Sînâ, die sich hauptsächlich über seine Jugendjahre erstreckt. Sie wird ergänzt von einer Biographie des Dschûzdschânî, eines vertrauten Schülers von Ibn Sînâ. Zwar liegt das Original nicht vor, wohl aber eine edierte spätere Rezension. Zwar ist das für diese Zeit eine außergwöhnlich reichhaltige Quellenlage für die Biographie eines Gelehrten ist – insbesondere wenn man das weitere erhaltene Material berücksichtigt. Doch gerade diese Materialfülle hat kurioserweise dazu geführt, daß sich mindestens bis zur Abfassung des Iranica-Artikels 1987 niemand ernsthaft und vor allem kritisch mit Ibn Sînâs Biographie auseinander gesetzt hat. Dabei wäre das angesichts der vielen Anekdoten und des stilisierenden Charakters der Autobiographie längst erforderlich gewesen. Stattdessen haben sich Romanschriftsteller des Themas angenommen (namentlich Gilbert Sinoué in „Die Straße nach Isfahan“).

Doch zurück zu Ibn Sînâs Wanderleben! Am Hof des Chvârazm-Schâh hielt es ihn nämlich nicht lange. Im Jahr 1012 brach er aus Gorgândsch wiederum „aus Notwendigkeit“ auf und wandte sich dieses Mal nach Gorgân am Kaspischen Meer. Als er 1013 dort ankam, war der lokale Herrscher Qâbûs ibn Voschmgîr gerade gestorben. Doch Ibn Sînâ konnte zumindest bis 1014 wohl im Dienst des neuen Herrschers in Gorgân bleiben, wo er auch seinen schon erwähnten Schüler Dschûzdschânî traf. Dieser begleitete ihn dann auf seinen weiteren Reisen.

Die Geschichte mit Mahmûd von Ghazna

Über die „Notwendigkeit“, die Ibn Sînâ aus Chvârazm wegtrieb, läßt sich anscheinend aus verläßlichen Quellen keine Information gewinnen. Eine ausführliche Anekdote in einem persischen Werk des 12. Jahrhunderts gibt dagegen einen Grund dafür an.

Demnach war der Ghaznavidenherrscher Mahmûd auf den Gedanken gekommen, seinem Hof durch berühmte Gelehrte weiteren Glanz zu verleihen. Deshalb schickte er dem Chvârazm-Schâh einen Boten mit der Aufforderung, die illustren Gelehrten seines Hofes an Mahmûd abzutreten. Daraufhin gab der Chvârazm-Schâh, der sich Mahmûds Forderung nicht entziehen konnte, „seinen“ Gelehrten unauffällig die Gelegenheit zur Flucht. Ibn Sînâ gefiel offenbar die Vorstellung nicht, als „Sammlerstück“ an Mahmûds Hof zu enden, und so nahm er die Gelegenheit wahr und Reißaus. Nur leider hatte es Mahmûd ganz besonders auf Ibn Sînâ abgesehen. Da der ihm nun durch die Lappen gegangen war und ein Mahmûd von Ghazna sich nicht einfach mit einer solchen Niederlage abfinden konnte, ließ er von seinen Malern regelrechte Steckbriefe anfertigen und sie an die anderen Herrscher schicken, um den Gelehrten doch noch zu fassen zu bekommen. Gelingen sollte ihm das aber nie.

Diese Anekdote hat nur den kleinen Schönheitsfehler, daß sie berichtet, Ibn Sînâ sei in Gorgân zu Qâbûs ibn Voschmgîr gerufen worden – und dieser war, wie wir eben erfahren haben, bei Ibn Sînâs Eintreffen in Gorgân in Wirklichkeit schon tot. Trotzdem ist es auffällig, daß Ibn Sînâ bei seiner Tour von einem Hof zum nächsten ausgerechnet den der Ghaznaviden vermieden hat. Angesichts seines weiteren Lebensweges kann man sich allerdings fragen, ob es eine so kluge Entscheidung war, auf ein sicheres Auskommen am Hof der Ghaznaviden zu verzichten. Sein Kollege Bîrûnî (973-1048) jedenfalls scheint damit nicht schlecht gefahren zu sein.

Weiter geht die Wanderung…

Was immer seine Gründe dafür gewesen sein mögen, die Ghaznaviden zu meiden, die restlichen Herrscher seiner Zeit konnten sich jedenfalls nicht darüber beklagen, daß Ibn Sînâ sich an ihren Höfen nicht gezeigt hätte. Nach Gorgân war seine nächste Station Rey, wo er den dortigen Bûyidenherrscher behandelte. Dort blieb er, bis 1015 der Bruder des Herrschers die Stadt angriff, dann zog er weiter nach Qazvîn und schließlich nach Hamadân. Dort trat er nicht nur als Arzt, sondern dieses Mal auch als Wesir in den Dienst des lokalen Herrschers und wurde fast seßhaft.

Erst im Jahr 1021 kam wieder Unruhe in sein Leben: Der Herrscher von Hamadân starb, und dessen Nachfolger bot Ibn Sînâ erneut das Wesirsamt an. Doch dieses Mal wollte Ibn Sînâ die Ehre nicht annehmen, sondern tauchte lieber unter und begann heimlich mit dem Kâkûyidenherrscher ‚Alâ‘ od-Doule in Esfahân über die Möglichkeit einer Flucht aus Hamadân zu korrespondieren. Sie kennen diesen Herrscher schon aus der Anekdote in diesem Beitrag.

Wegen dieser Korrespondenz kamen der Herrscher von Hamadân und dessen Wesir zu dem Schluß, daß Ibn Sînâ als Verräter zu betrachten sei. Daher ließen sie ihn festnehmen und steckten ihn in Festungshaft. Erst als ‚Alâ‘ od-Doule 1023 Hamadân einnahm, wurde Ibn Sînâ befreit. Noch immer wollte er aber keinen weiteren Verwaltungsposten in Hamadân annehmen.

…und findet doch ein Ende

Schließlich zog Ibn Sînâ im Jahr 1024 nach Esfahân, wo er in Ehren aufgenommen wurde und endlich zur Ruhe kam. Im Dienst des ‚Alâ‘ od-Doule nahm er auch an dessen Kriegszügen und Reisen teil und starb bei einer solchen Gelegenheit im Jahr 1037 auf dem Weg nach Hamadân an Koliken. Auch über diesen Tod ist übrigens manches spekuliert worden.

Ibn Sînâs Grab kann man bis heute in Hamadân besuchen, wohin mich meine letzte Iranreise trotz bester Absichten leider nicht geführt hat. Mehr als das Grabmal haben jedoch Ibn Sînâs Schriften dafür gesorgt, daß sein Andenken in Ost und West bis heute bewahrt geblieben ist. Seine philosophischen Werke wurden unter Muslimen über Jahrhunderte hinweg breit rezipiert, und vor allem im Osten (Irak, Iran, Indien) war auch sein „Kanon der Medizin“ beliebt und verbreitet. Dasselbe gilt für die lateinischen Versionen des Werkes („Canon medicinae“) im Europa des Mittelalters und bis weit hinein in die Neuzeit.

Mehr zu Ibn Sînâ finden Sie in Teil 2 der Miniserie.

Quellen und Literatur

Dimitri Gutas, “Avicenna ii. Biography,” Encyclopaedia Iranica, III/1, pp. 67-70 (Publikationsdatum: 15. Dezember 1987); upgedatete Version online unter http://www.iranicaonline.org/articles/avicenna-ii (letztes Update: 17. August 2011; zuletzt aufgerufen am 08.02.2015).

Zu weiteren Teilen des Avicenna-Artikels in der Encyclopaedia Iranica siehe die Verlinkungen im Beitrag.

an-Nezâmî al-‚Arûzî as-Samarqandî, Ahmad b. ‚Omar b. ‚Alî: Tschahâr Maqâle. Mit Einleitung, Anmerkungen und Indices hrsg. v. Mîrzâ Mohammad b. ‚Abdolvahhâb-e Qazvînî. Leiden: Brill/London: Luzac, 1910. S. 77-79.

Edward G. Browne: Revised Translation of The Chahár Maqála („Four Discourses“) of Nizámí-i-‚Arúdí of Samarqand. Followed by an abridged translation of Mírzá Muhammad’s notes to the Persian text. London: Cambridge University Press/Luzac, 1921. S. 86-89.


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