Heute bekommen Sie einen Einblick in die Herausforderungen meiner täglichen Arbeit. Nein, nicht das Entziffern persischer oder arabischer Handschriftenseiten macht mir gerade zu schaffen, sondern die Angewohnheit von Wissenschaftlern des 19. Jahrhunderts, in ihren Augen anstößige Textstellen zu „verschlüsseln“.
Zur Zeit arbeite ich mich nämlich systematisch durch ein Buch über die „indische Erotik“. Es stammt vom Beginn des 20. Jahrhunderts, ist also gut hundert Jahre alt. Aber Arbeiten zu diesem Thema sind seitdem nicht allzu viele publiziert worden.
Das ist in den orientkundlichen Fächern nicht einmal so selten. Immer wieder gibt es Themen, zu denen man auf ältere Literatur aus der Mitte des letzten Jahrhunderts zurückgreifen muß. Gelegentlich muß man sich auch mit den Pionierarbeiten aus dem 19. Jahrhundert auseinander setzen – und manchmal sind sie sogar unverzichtbar wie in diesem Fall.
An sich ist das auch nicht problematisch, auch wenn sich die Forschungsansätze und Methoden mittlerweile stark gewandelt haben. Man weiß ja, womit man es zu tun hat. Und in diesem Buch ist vor allem das präsentierte Material wichtig. Der Verfasser hat nämlich umfangreiche Auszüge aus Sanskrittexten zur Erotik nach Themen sortiert und längere Passagen aus den verfügbaren Werken einander gegenübergestellt.
Nur gibt er nicht alle Textstellen in Umschrift und in deutscher Übersetzung an, sondern er verwendet wegen der teils delikaten Inhalte beim Thema Geschlechtsverkehr die erwähnte „Verschlüsselungsmethode“. Wahrscheinlich hat jeder historisch arbeitende Orientalist schon Bekanntschaft damit gemacht.
Die Methode besteht darin, eine Art „Geheimsprache“ zu verwenden: Latein. So stellen die Autoren sicher, daß heikle Passagen – vor allem solche mit sexuellen Anspielungen oder anderen als „unanständig“ empfundenen Inhalten – nicht etwa in falsche Hände geraten und statt zur Förderung der wissenschaftlichen Erkenntnis zum verwerflichen persönlichen Genuß gelesen werden.
Wissenschaftler verstanden nämlich noch im frühen 20. Jahrhundert mühelos lateinische Passagen. Anscheinend traf das für Nicht-Wissenschaftler, die als mögliche Leser immerhin Zugang zu wissenschaftlicher Literatur haben mußten, nicht zu. Und natürlich fiel der Verdacht eines niederen Motivs beim Lesen weniger auf Wissenschaftler als auf alle anderen Menschen, die man deshalb vor dem moralisch verderblichen Einfluß solcher Lektüre schützen mußte. 😉
So wurde Latein im 19. und frühen 20. Jahrhundert zur „Geheimsprache“ der Wissenschaft, mit der man Textpassagen „verschlüsselte“, die man ähnlich empfand wie heute nicht jugendfreie Inhalte. Nur daß man wohl auch erwachsenen Menschen mangelnde sittliche Reife unterstellte, sofern sie nicht über eine höhere Bildung verfügten.
Den Forschern damals kam natürlich nicht in den Sinn, daß Latein aus der Wissenschaft so gründlich verschwinden würde, wie es heute der Fall ist. Wenn man sich die lateinischen Passagen anschaut, gewinnt man den Eindruck, daß man damals auf Latein ähnlich flüssig und problemlos schreiben konnte wie heute auf englisch. Für heutige Wissenschaftler führt das jedoch zu Unannehmlichkeiten bei der Lektüre.
Ich habe zwar noch ganz ordentlich Latein gelernt. Nur ist das seit meiner Schulzeit ziemlich eingestaubt. Deshalb kann ich es nicht mehr einfach so herunterlesen. Das bremst natürlich die Lesegeschwindigkeit, was heutzutage fatal genug ist (s. dazu auch diesen Beitrag). Doch aufgrund meiner bisherigen Beobachtungen bei Studenten wage ich die Prognose, daß schon in der nächsten Generation kaum noch jemand in der Lage sein wird, lateinische Passagen zu verstehen.
Zum Glück halten sich die lateinischen Textstellen in meiner aktuellen Lektüre sehr in Grenzen. Das wundert mich, denn nur die Stellungen beim Geschlechtsverkehr sind ins Lateinische übersetzt. Eigentlich wäre es ja folgerichtiger gewesen, die gesamte Abhandlung über die „indische Erotik“ auf Latein abzufassen. Aber ich will mich ganz sicher nicht beklagen.
Die Anleitungen für Stellungen beim Geschlechtsverkehr sehen dann aus wie diese hier (manche sind auch doppelt so lang):
Si femina muro innisa alterum pedem in pectore ponit, altero virum amatum circumplicat, iste coitus vestitaka (circumplicans) aestimatur.
(Schmidt, S. 433, Kursivsetzung von mir)
Das ist eine Stellung, bei der sich die Frau an eine Mauer lehnt, einen Fuß auf die Brust setzt und mit dem anderen Bein den Mann umschlingt. Ich frage mich ja, wieso der Verfasser ausgerechnet diese sehr akrobatischen Stellungen für moralgefährdend hält, während er Umarmungen, Küsse und andere erotische Techniken auf deutsch wiedergibt. Vielleicht, weil bei den Stellungen gelegentlich auch Worte wie „Penis“ fallen? Womöglich gibt es ja schon Forschungsliteratur zur Logik dieser „Verschlüsselungen“.
Wer nicht einsieht, warum er für ein Studium der Islamwissenschaft das Latinum nachweisen muß, kann sich jedenfalls selbst die motivierende Antwort geben: Die interessantesten Passagen in den Klassikern sind auf Latein! 😉
Im übrigen gibt die Anfang des 20. Jahrhunderts anscheinend noch unvorstellbare Entwicklung weg vom Latein in der Wissenschaft auch zu denken. Wie weitsichtig ist es vor diesem Hintergrund, wenn deutsche Forscher heute überwiegend auf englisch zu publizieren?
P.S.:
In dieser Leseprobe zu einem Buch von Jürgen Leonhardt findet man interessante Informationen zur historischen Bedeutung des Lateinischen (auch als Wissenschaftssprache) und Beispiele seines Wiederauflebens im 21. Jahrhundert. Vielleicht habe ich mit meiner Prognose ja unrecht, wer weiß?
Literatur
Schmidt, Richard: Beiträge zur indischen Erotik: das Liebesleben des Sanskritvolkes. 3. Aufl. Halle 1911.
Pingback: [Persophonie] Nicht jugendfrei: Latein als Geheimsprache der Wissenschaft - #Iran | netzlesen.de