Wir haben uns zwar schon einmal mit den mysteriösen Umständen rund um Nezâm ol-Molks Ableben beschäftigt. Aber diese faszinierende und vor allem ungelöste Kriminalgeschichte zieht mich doch immer wieder in ihren Bann. Also präsentiere ich Ihnen heute eine weitere Diskussion über die möglichen Täter und ihre Motive.
Nezâm ol-Molk, soviel ist klar, wurde am 14. Oktober 1092 durch einen Dolchstich getötet. Er befand sich zusammen mit dem Sultan Malek-Schâh (st. 1092) auf der Reise nach Bagdad und war eben dabei, sich vom Fastenbrechen in seine Zelte zurückzuziehen. Da er kurz zuvor krank gewesen und noch nicht vollständig genesen war, wurde er getragen.
Der Täter konnte sich dem Nezâm nähern, weil er sich als Bittsteller gab. Er war in die Tracht der Leute von Deylam südlich des Kaspischen Meeres gekleidet. Nachdem er auf den Nezâm eingestochen hatte, versuchte er zu fliehen, stolperte aber über Zeltschnüre. Leider wurde er sofort niedergemacht.
Er konnte also nicht verhört werden. Und wir haben so gut wie keine zeitgenössischen Quellen zur Verfügung. Wenn wir also wissen wollen, wer hinter diesem Mord steckte, müssen wir abwägen, was uns die vorhandenen, sehr viel später verfaßten Quellen mitteilen.
Tatverdächtige, Motive und Verschwörungstheorien
Dort finden wir verschiedene Möglichkeiten. Die Hauptverdächtigen und ihre Motive sind die folgenden:
- Die Assassinen: Sie wollten den den mächtigen Wesir aus dem Weg schaffen, da er ihr erklärter Feind war und zum Zeitpunkt des Mordes militärische Aktionen gegen sie stattfanden.
- Tâdsch ol-Molk: Er war ein Rivale des Nezâm und Günstling der Sultansgatting Terken Châtûn und stand auch bei Malek-Schâh bereits in Gunst. Er wollte den Weg freimachen, um selbst Wesir zu werden, da der Sultan den Nezâm nicht absetzte.
- Die Sultansgatting Terken Châtûn (st. 1094) selbst: Sie wollte ihren vierjährigen Sohn Mahmûd zum Thronfolger erklären lassen, doch der Nezâm unterstützte Malek-Schâh in seiner Präferenz des ältesten Sohnes Berkyârûq (st. 1104) von einer anderen Gattin des Sultans.
- Malek-Schâh: Der Sultan wollte sich endlich von der Bevormundung des Wesirs befreien und bei seinen Plänen gegen den Kalifen freie Hand haben, denen sich der Nezâm widersetzte. Er wagte aber nicht, den Wesir abzusetzen, da dieser viele Anhänger im Heer, eine beachtliche eigene Truppe und seine Angehörigen und Freund auf wichtigen Posten überall im Reich plaziert hatte.
Es gibt folgende Theorien über die möglichen Verantwortlichen für den Mord:
- Die Assassinen haben den Nezâm aus eigenem Antrieb ermordet.
- Tâdsch ol-Molk oder Terken Châtûn oder Malek-Schâh haben a) die Assassinen oder b) einen anderen Mörder beauftragt.
- Tâdsch ol-Molk und Terken Châtûn haben sich miteinander verbündet und a) die Assassinen oder b) einen anderen Mörder beauftragt.
- Tâdsch ol-Molk und Terken Châtûn haben gemeinsam und unter stillschweigender Billigung Malek-Schâhs a) die Assassinen oder b) einen anderen Mörder beauftragt.
Die Assassinen – Argumente für und gegen Theorie 1
Zu dem Zeitpunkt, als der Nezâm ermordet wurde, belagerten seldschukische Truppen zwei Festungen der sogenannten Assassinen, unter anderem deren Hauptburg Alamût. Unter der Bezeichnung „Assassinen“ ist ein iranischer Ableger der Ismailiten bekannt, der im Jahr 1092 formal noch der Oberhoheit des fatimidischen Kalifen in Kairo unterstand, sich aber nach dessen Tod im Jahre 1094 im Zuge von Nachfolgestreitigkeiten unabhängig machte und sich seitdem „Nizârîs“ nennt.
Doch zurück zur Frage des Mordes am Nezâm: Diese Belagerungen wären durchaus ein Grund gewesen, den Wesir als treibende Kraft in der Regierung des Sultans zu beseitigen. Zudem bestand die berechtigte Hoffnung, daß der Wegfall des Wesirs für einige Unordnung im Reich sorgen und damit die Aufmerksamkeit des Sultans auf andere Probleme lenken würde.
Allerdings bestand die Gefahr, daß der Sultan seine militärischen Maßnahmen auch ohne den Wesir weiterführen würde, und es wäre demnach effektiver gewesen, den Sultan selbst zu töten. Insbesondere mit Blick auf die Streitigkeiten über den Thronfolger wäre diese Strategie vielversprechend gewesen, denn die Truppen des Sultans wären dann dringend für interne Streitigkeiten benötigt worden.
Die Tatsache, daß der Mörder als „Jüngling aus Dailam“ beschrieben wird, also aus der Gegend, in der sich auch der Assassinen-Hauptsitz Alamût befand und das Umland kontrollierte, ist aber nicht der einzige Hinweis auf die Assassinen.
Zwei spätere persische Geschichtsschreiber, die ganz klar die Asssassinen beschuldigen, hatten auch Zugang zu den Aufzeichnungen der Assassinen selbst, da Alamût von den Mongolen erobert worden war. Demnach haben die Assassinen selbst den Mord für sich beansprucht.
Nur ist nicht sicher, daß die Geschichtsschreiber ihre Quellen korrekt zitieren. Doch selbst wenn die Assassinen den Mord tatsächlich für sich in Anspruch nahmen, ist noch immer nicht klar, ob sie wirklich für ihn verantwortlich waren. Immerhin wäre es möglich, daß sie einfach nur den Ruhm beanspruchen wollten, einen so mächtigen Gegner zu Fall gebracht zu haben.
Wir wissen also nicht, ob auf die Quellen, die für die Assassinen als Mörder sprechen, Verlaß ist. Außerdem ist nicht klar, warum die Assassinen den Wesir und nicht den Sultan aufs Korn genommen haben sollten. Und schließlich gibt es in den Quellen Hinweise auf andere Verdächtige. Auch das läßt Zweifel aufkommen.
Doch die Hinweise auf Quellen aus Alamût lassen zumindest einen starken Verdacht gegen die Assassinen bestehen.
Tâdsch ol-Molk, Terken Châtûn oder Malek-Schâh als treibende Kraft – Argumente für und gegen Theorie 2
Sowohl Tâdsch ol-Molk als auch die Sultansgattin und der Sultan selbst hatten ein Motiv, den Nezâm zu töten, und jeder von ihnen hätte einen Mörder beauftragen können.
Da manche Quellen Tâdsch ol-Molk bezichtigen, ein Anhänger des Assassinenführers Hasan-e Sabbâh (st. 1124) gewesen zu sein, wäre es also durchaus möglich, daß er die Assassinen um Hilfe für das geplante Attentat ersuchte und diese auch erhielt. Der Tod des Wesirs wäre ja auch den Assassinen zupaß gekommen.
Ob die Assassinen allerdings direkt mit Leuten der Sultansgattin oder des Sultans verhandelt oder ihnen gar bei der Durchführung eines Anschlags auf den Wesir geholfen hätten, ist schon zweifelhafter. Immerhin war es der Sultan, der zum selben Zeitpunkt ihre Burgen belagern ließ. Er wäre für die Assassinen daher wohl eher als Ziel denn als Verbündeter in Frage gekommen.
Denkbar ist jedoch, daß einer der genannten Verdächtigen absichtlich einen Dailamiten als Mörder anheuerte, um den Verdacht auf die Assassinen zu lenken. Das hätte zumindest das Risiko verringert, Schwierigkeiten mit der beträchtlichen Zahl von Anhängern des Nezâm und insbesondere seiner Truppe zu bekommen. Zu diesem Zeitpunkt waren die Assassinen zwar noch nicht als Mörder an hochgestellten Persönlichkeiten bekannt, doch den Anhängern einer von der Mehrheit abweichenden religiösen Überzeugung wird ja gemeinhin jede Schandtat zugetraut.
Von den dreien ist Tâdsch ol-Molk am verdächtigsten. Die Sklaventruppe des Nezâm soll sich nämlich nach dem Tod des Sultans nur deshalb auf die Seite seines ältesten Sohnes Berkyâruq geschlagen haben, weil Tâdsch ol-Molk auf der Gegenseite stand. Und als sie ihn schließlich zu fassen bekamen, brachten sie ihn gegen den Willen Berkyâruqs um – und nicht auf die appetitliche Art. All das taten sie, weil sie ihn für den Mord an ihrem Herrn verantwortlich machten.
Wenn wir also vermuten, daß die Nizâmiyya-Truppe womöglich mehr über die tatsächlichen Hintergründe des Mordes wußte als die Geschichtsschreiber späterer Zeiten oder gar wir, dann erhärtet dies doch den Verdacht gegen Tâdsch ol-Molk erheblich. Sein Motiv ist auch das stärkste, da er zu Lebzeiten des Nezâm kaum darauf hoffen konnte, zu Malek-Schâhs Wesir aufzusteigen.
Malek-Schâh dagegen konnte durchaus gegen den Willen seines mächtigen Wesirs agieren und tat dies auch gelegentlich. Es ist also fraglich, ob die Opposition des Nezâm gegen Malek-Schâhs Pläne für das abbasidische Kalifat von Bagdad in seinen Augen tatsächlich einen Mord nötig machte. Angesichts des hohen Alters des Wesirs hätte er ansonsten auch einfach abwarten können, bis die Natur das Problem für ihn gelöst hätte, statt unnötige Risiken mit dessen Gefolgsleuten einzugehen.
Terken Châtûn ihrerseits hatte nicht wenig Einfluß auf den Sultan. Es war zwar ein Problem für sie, daß der Wesir und der Sultan sich in der Nachfolgefrage einig waren. Doch ob sie sich von der Beseitigung des Nezâm genug versprach, um einen Mord zu beauftragen, ist auch nicht klar. Zumindest stand der Nezâm ihr aber im Weg.
Doch angesichts der großen Anzahl an Tatverdächtigen mit unterschiedlich starken Motiven liegt es nahe, ein Komplott unter Beteiligung mehrerer Akteure zu vermuten. Damit befassen wir uns im nächsten Beitrag. Schauen Sie wieder herein! 😉
Literatur
Carole Hillenbrand: „1092: A murderous year“. In: Proceedings of the 14th Congress of the Union Européenne des Arabisants et Islamisants – Budapest, 29th August-3rd September 1988. Part 2. Ed. by Alexander Fodor. Budapest 1995. (The Arabist, Budapest Studies in Arabic, 15-16). 281-296.
Bildnachweis
Beitragsbild: Der Mord an Nezâm ol-Molk
Quelle: Wikimedia Commons
gemeinfrei
Statue des Nezâm:
Quelle: Wikimedia Commons
Urheber: Juybari
Lizenz: Creative Commons 3.0
unverändert übernommen
Abbildung des Hasan-e Sabbâh:
Quelle: Wikimedia Commons
Urheber: unbekannt
Lizenz: Creative Commons 4.0
unverändert übernommen
Miniaturbild des Malek-Schâh:
Quelle: Wikimedia Commons
gemeinfrei
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