Kashmiriyat, so nennen die Kaschmiris ihre Lebensweise. Sie bezeichnet nicht nur das traditionell harmonische Zusammenleben der Religionen Hinduismus, Islam und Sikhismus, sondern auch die regionale Kultur, die Kleidung und die traditionelle Küche. Ich frage meinen Freund Younis, der in Srinagar geboren wurde, nach weiteren Beispielen für Kashmiriyat. “Schau Dir die Legende der Mystikerin Lal Ded an, Lal Ded oder Lalleswari lebte im 14. Jahrhundert. Ihre mystischen Verse wurden von Hindus und Muslimen zugleich zitiert. Als sie starb, verwandelte sich ihr Körper in eine Figur aus Blüten, von denen die eine Hälfte von Hindus, die andere von Muslimen nach ihren Riten bestattet wurde”. “Das ist Kashmiriyat”, erklärt Younis. “Und natürlich der Wazwan …”.
Ich fahre mit vier anderen Ehrengästen zur Hochzeit eines Facebook-Freundes in der Nähe Srinagars. Dass ich zu den Ehrengästen der „Walima“, des Hochzeitsempfanges, zähle, war schon deutlich, als meine Freunde angekündigten, dass uns ein Wazwan serviert würde. Ich also entsprechend vorbereitet und trug auch einen Shalwar kameez, ein langes Hemd, das locker über einer Hose getragen wird. Als Schal oder Kopfbedeckung trägt man eine dupatta. Mein Shalwar kameez ist türkis, mit pastellfarbenen Blüten bestickt. Ich fühle mich wohl im Shalwar kameez und bin voller Vorfreude auf die Feier und den Wazwan.
Das traditionell aus 36 Gängen bestehende Menü ist bereits seit Jahrhunderten ein königliches Festmahl, das auch an den Höfen der Herrscher Kaschmirs aufgetischt wurde. Die Zubereitung ist nicht einfach “Kochen”, sondern Kunst. Die Zubereitung nimmt mehr als 36 Stunden in Anspruch. Vegetarier kommen beim Wazwan nicht auf ihre Kosten, denn Hammel- und Hähnchenfleisch in verschiedenen Saucen gekocht gehören zu den Hauptzutaten. Vorsorglich halte ich am Tag der Hochzeit das Frühstück knapp.
Wazwan – eine Herausforderung für Vegetarier
Bei unserer Ankunft am Ort der Feierlichkeiten sehe ich auf der linken Seite des Grundstückes ein großes Zelt, in dem die Braut mit allen weiblichen Gästen feiert – zumindest in dieser Familie feiert man also nach Geschlechtern getrennt. Die Frauen, in traditionelle kaschmirische Trachten oder wie ich in Shalwar Kameez gekleidet, genießen ein großes Buffet. Zwei Frauen winken mir zu – ich winke zurück.
Wir betreten das Haus und werden in das sehr große Zimmer geleitet, das für den Empfang von Besuch gedacht ist, und wo man gewöhnlich an große Kissen gelehnt auf dem Boden sitzt. Heute jedoch stehen knapp 30 Stühle in dem Raum, auf denen schon etwa 25 weitere Ehrengäste Platz genommen haben. Männliche Ehrengäste, denn ich bin die einzige Frau. Als nicht-Muslimin stehe ich außerhalb des gesellschaftlichen Systems und kann mich frei sowohl in der männlichen als auch der weiblichen Gesellschaft bewegen.
Nach dem obligatorischen Tee, Knabbereien und Small-Talk beginnt der Höhepunkt der Feier, der Wazwan: Die Stühle werden aus dem Raum geschafft, alle nehmen in Gruppen zu 4-6 Personen auf dem Boden Platz. Alle – nur ich nicht. Ich bleibe auf dem Stuhl sitzen und bekomme einen kleinen Tisch zugeteilt. Dann folgt der erste obligatorische Teil: Bedienstete tragen das tash-t-naer herein, ein “Handwaschbecken”, in dem jeder sich die Hände reinigt. Auch ich bekomme eine kleine Extraversion davon und reinige meine Hände. Vor die Männer wird nun eine große Servierplatte gestellt, auf denen sich ein Berg Reis und pro Person zwei Sheekh-Kebab-Spieße befinden – dann werden in schneller Reihenfolge folgende Köstlichkeiten auf die Platte gelegt: Lamm oder Huhn mit Bockshornklee (methi), zwei gekochte Lammrippen, in Milch und Gewürzen geschmort und dann in Butter gebraten, Huhn in weißer Sauce (safed kokur) und Huhn in Safransauce (zafran kokur).
Ich erhalte alles auf einer kleineren Version der Servierplatte, aber natürlich dieselben Gerichte. Köstlich sind sie, diese Speisen, die verschiedenen Gewürze, die hellen und dunklen Saucen, der Wechsel von milderen und pikanteren Aromen. Ich schmecke Bockshornklee, Kurkuma, Joghurt, Safran… Ich esse unter anerkennendem Nicken der anderen Gäste. Trotz des Genusses bin ich erleichtert, als das gushtaba, das Fleisch-“Bällchen” in Joghurtsauce serviert wird – denn ich weiß, dass es der letzte Gang ist. Nein, nicht ganz der letzte Gang, denn es kommt ja noch der Milchreis zum Dessert.
Mengenmäßig war der Wazwan eine Herausforderung, geschmacklich war er königlich. Bevor ich die Feier verlasse, gehe ich natürlich auch noch kurz in das Zelt der Frauen, um zu gratulieren.
Das Abendessen habe ich an dem Tag ausfallen lassen
Wenn ich heute meine indischen Freunde wiedersehe, sprechen wir oft davon, wie wir zusammen in Kaschmir den Wazwan aßen.
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Das Bild zeigt eine Servierplatte mit einem Wazwan.
Oniongas, CC BY-SA 3.0 https://creativecommons.org/licenses/by-sa/3.0, via Wikimedia Commons