Ich finde ja, aus Witzen kann man einiges lernen. Das dürfte jedem klar sein, der meine bisherigen Beiträge zum Thema Humor und Witze gelesen hat. Das liegt vor allem daran, daß Witze meistens an die Kultur des Publikums angepaßt werden, selbst wenn sie ursprünglich in einer ganz anderen Weltgegend entstanden sind. Gerade sehr kulturspezifische Witze sind oft auch besonders witzig, denn ihre Pointe trifft exakt ins Schwarze. Doch genau dieser Vorzug bringt den Nachteil mit sich, daß ein solcher Witz für Angehörige einer anderen Kultur manchmal überhaupt nicht mehr verständlich ist. Dasselbe gilt natürlich auch für besonders zeitspezifische Witze. Man kann also nicht nur AUS Witzen lernen, sondern manchmal muß man erst einmal lernen, einen Witz überhaupt zu verstehen.
Nun sagt man ja, wenn man einen Witz erst erklären muß, dann ist er nicht mehr witzig. Mag sein. Aber ich will es heute trotzdem einmal mit einem Beispiel versuchen. Vielleicht folgen ja nach und nach weitere Beispiele. Mein heutiger Beispielwitz geht so:
Ein Mann namens ‚Emrân wurde in Qom verprügelt. Jemand fragte: „Wenn er doch nicht ‚Omar heißt, wieso schlagt ihr ihn dann?“ Antwort: „Er heißt ‚Omar, und das alif und nûn von ‚Osmân hat man noch dazu gegeben!“ (Zâkânî, S. 291)
Und? Haben Sie den Witz verstanden? Wenn ja, dann haben Sie eine Menge einschlägiger Vorkenntnisse. Schauen wir also mal, ob der Witz verständlicher wird, wenn man diese Vorkenntnisse nachliefert.
Zunächst einmal handelt es sich um einen antisunnitischen Witz. Es geht dabei nämlich um den Konflikt zwischen der zahlenmäßig weitaus größten religiösen Richtung des Islam, den Sunniten, und der bereits kurze Zeit nach dem Tod Mohammeds entstandenen Richtung der Schiiten. Die letztgenannte Richtung bildete sich im Zuge der Nachfolgestreitigkeiten heraus. Wer sollte die Gemeinschaft der Muslime nach dem Tod ihres Propheten leiten? Die Mehrheit einigte sich auf Abû Bakr (632-634), dessen Nachfolger wurde ‚Umar ibn al-Chattâb (in persischer Aussprache: ‚Omar) von 634 bis 644, ihm folgte ‚Uthmân ibn ‚Affân (in persischer Aussprache ‚Osmân) von 644 bis 656 und diesem ‚Alî ibn Abî Tâlib, der Vetter und Schwiegersohn Mohammeds, von 656 bis 661. Diese vier nennen die Sunniten die „rechtgeleiteten Kalifen“. Unter ‚Uthmân und ‚Alî war die Gemeinschaft der Muslime aber schon nicht mehr sonderlich einig, und beide wurden von Muslimen ermordet.
Es gab aber auch Muslime, die der Ansicht waren, ‚Alî hätte von Anfang an die Nachfolge Mohammeds antreten sollen, denn er war einer der ersten Muslime gewesen und außerdem eng mit Mohammed verwandt. Es würde zu weit führen, die Aspekte zu diskutieren, die in diesen Nachfolgestreitigkeiten eine Rolle gespielt haben. Wichtig ist vor allem, daß diejenigen, die ‚Alî als den einzigen rechtmäßigen Nachfolger Mohammeds ansahen, zu einer neuen religiösen Richtung wurden, zur Schia. Schia kommt nämlich von „schî’at ‚Alî“, das heißt: „Partei ‚Alîs“.
Da die Schiiten der Ansicht sind, ‚Alî hätte Mohammed direkt als Leiter der muslimischen Gemeinschaft nachfolgen sollen, erkennen sie Abû Bakr, ‚Umar und ‚Uthmân auch nicht als rechtmäßige Kalifen an. Über die Jahrhunderte hinweg machten es sich die als kleine Minderheit meist ziemlich machtlosen Schiiten zur Gewohnheit, diese ersten drei Kalifen bei Feierlichkeiten lauthals zu schmähen. Diese Provokation war im Mittelalter immer wieder einmal Auslöser von lokal sehr begrenzten, aber durchaus gewalttätigen Auseinandersetzungen zwischen Schiiten und Sunniten. Die eigentlichen Gründe für solche Auseinandersetzungen liegen allerdings meist tiefer, aber das wäre ein anderes Thema.
Nun ist Ihnen vielleicht schon aufgefallen, daß zwei der drei von den Schiiten gern geschmähten ersten Kalifen in unserem Witz vorkommen: ‚Umar in der persischen Aussprache ‚Omar und ‚Uthmân in der persischen Aussprache ‚Osmân. Aus dem Witztext wird klar, daß es in der beschriebenen Situation nachvollziehbar wäre, einen Mann namens ‚Omar zu verprügeln, aber nicht einen Mann namens ‚Emrân. Dazu muß man beachten, daß dieser Witz in Qom spielt. Das ist wichtig, weil Qom bereits im 14. Jahrhundert, als die Quelle dieses Witzes entstanden ist, ein Zentrum schiitischer Gelehrsamkeit war. Außerdem gab es dort auch schon ein wichtiges schiitisches Heiligtum. Qom wird heute meist Ghom geschrieben und liegt in Iran auf dem Weg zwischen Teheran und Esfahan. Der zugehörige Wikipedia-Artikel enthält auch eine Karte.
Nun werden Sie vielleicht sagen: Iran ist doch sowieso mehrheitlich schiitisch. Welche Rolle spielt es da, daß sich die Geschichte in Qom abspielt? – Es spielt deshalb eine Rolle, weil Iran im 14. Jahrhundert noch mehrheitlich von Sunniten bevölkert war und sich dies erst mit der Machtergreifung des ersten Safaviden-Schahs 1501 langsam zu ändern begann. Als die Witzesammlung entstand, aus der dieser Witz entnommen ist, war die iranische Bevölkerung also noch nicht mehrheitlich schiitisch, Qom aber bereits eine schiitische Stadt.
Doch zurück zum Witz! – Wir haben gesehen, daß es in der schiitischen Stadt Qom laut der Witzerzählung als nachvollziehbar erschien, daß man für den Namen ‚Omar verprügelt wurde. Das liegt an dem unter Schiiten traditionell verbreiteten Haß auf die ersten drei Kalifen. Dieser wurde auch auf die Namen übertragen. Deshalb können Sie auch ziemlich sicher sein, daß Sie keinen Schiiten vor sich haben, wenn sich Ihnen jemand als ‚Umar/’Omar oder ‚Uthmân/’Osmân vorstellt.
Das erklärt aber noch nicht, warum in dem Witz nun der arme ‚Emrân verdroschen wird. Auch die dafür angeführte Erklärung will schließlich erst einmal verstanden sein. Wie Sie sich mittlerweile vielleicht denken können, handelt es sich bei der Pointe wieder einmal um ein Sprachspiel. Um es zu erklären, muß ich mich an der Abbildung arabischer Buchstaben auf diesem Blog versuchen. Ich hoffe, das gelingt. Für den Fall, daß es nicht funktioniert, gebe ich auch eine vereinfachte Umschrift an. Der Kern des Sprachspiels hat mit den Wurzelkonsonanten der Namen zu tun. Das sind die Konsonanten, die den Stamm eines Wortes bilden. Vokale werden nur geschrieben, wenn sie lang sind (wie das â in ‚Emrân und ‚Osmân). Zusätzlich zu den Wurzelkonsonanten kann ein Wortbild also auch lange Vokale zeigen. Durch weitere Konsonanten kann das Wort gebeugt oder in ein anderes verwandelt werden. Und genau das tut der Sprecher im Witz, und zwar so:
Der Name ‚Emrân sieht in arabischer Schrift (die auch für das Persische verwendet wird) so aus: عمران (Umschrift: ‚-m-r-â-n).
Der Name ‚Omar so:
عمر (Umschrift: ‚-m-r).
Der Name ‚Osmân so:
عثمان (Umschrift: ‚-th-m-â-n).
Wenn man nun zu ‚Omar die letzten beiden Buchstaben von ‚Osmân hinzufügt, dann ergibt sich das Wortbild von ‚Emrân:
عمر
+
ان
=
عمران
oder in Umschrift:
‚-m-r
+
â-n
=
‚-m-r-â-n.
Derjenige, der im Witz die Antwort gibt, sagt also mit anderen Worten: In dem Namen ‚Emrân steckt sehr wohl der Name ‚Omar drin, und zusätzlich ist auch noch ein Teil von ‚Osmâns Namen hinten angehängt worden, nämlich das lange â (das heißt alif) und das n (das heißt nûn). So wird aus ‚Emrân plötzlich ein ganzer ‚Omar in Kombination mit einem halben ‚Osmân, und das macht seine Situation sogar noch schlimmer, als wenn er nur ‚Omar hieße.
Nachdem wir diesen langen Weg hinter uns gebracht haben, versuchen wir es also noch einmal mit dem Witz, der nun hoffentlich für alle Leser umfassend verständlich geworden ist:
Ein Mann namens ‚Emrân wurde in Qom verprügelt. Jemand fragte: „Wenn er doch nicht ‚Omar heißt, wieso schlagt ihr ihn dann?“ Antwort: „Er heißt ‚Omar, und das alif und nûn von ‚Osmân hat man noch dazu gegeben!“ (Zâkânî, S. 291)
Habe ich erwähnt, daß ich Witze für einen ausgezeichneten Ausgangspunkt halte, wenn es darum geht, kulturelle und historische Informationen zu vermitteln? 😉
Quelle
Zâkânî, Nezâm od-Dîn ‚Obeydollâh: Kolliyât-e ‚Obeyd-e Zâkânî/Collected Works. Ed. by Mohammad-Ja’far Mahjoub. New York: Bibliotheca Persica Press, 1999 (Madschmû’e-ye Motûn-e Fârsî; Selsele-ye Nou, Schomâre-ye 2/Persian Text Series; New Series, no. 2).
Literatur
zu den Nachfolgestreitigkeiten unter ausführlicher Berücksichtigung der Argumente und Aspekte:
Albrecht Noth: “Von der medinensischen “Umma” zu einer muslimischen Ökumene”, in: Albrecht Noth/Jürgen Paul (Hrsg.): Der islamische Orient: Grundzüge seiner Geschichte, Würzburg: Ergon, 1998, S. 81-134.
zur Entwicklung der Schia:
Heinz Halm: Die Schia. Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1988.
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