Warum Geschlechtsverkehr manchmal gesund ist und manchmal ungesund

Jedenfalls nach der verbreiteten Auffassung in meinen Quellen ist er das: gesund oder ungesund, je nachdem. Diese Quellen sind einige persische Medizinwerke aus dem 12. bis 18. Jahrhundert und natürlich der arabische Qânûn fi t-tibb, also der Canon des Avicenna. Wer genau wissen will, was in welchem Buch steht, kann sich ja in ein bis zwei Jahren mal mein „zweites Buch“ zu Gemüte führen – wann immer es erhältlich sein wird. (Das „zweite Buch“ ist die nächste große wissenschaftliche Arbeit nach der Dissertation, also entweder die Habilitationsschrift oder zumindest ein weiteres publiziertes Buch – das zweite eben.)

Wie ich bereits hier erläutert habe, war in dieser Literatur die Auffassung verbreitet, daß die weiblichen Geschlechtsorgane nur eine weniger ausgereifte, nach innen gestülpte Variante der männlichen Geschlechtsorgane seien. Folglich stellte man sich vor, daß sich im Körper von Frauen ebenso wie in dem der Männer Samenflüssigkeit bilde. (Auch die Samenflüssigkeit der Frauen war nach Ansicht der meisten Autoren an der Zeugung von Kindern beteiligt, aber das ist wieder ein anderes Thema.) Daher gelten die Regeln für den Geschlechtsverkehr zumindest in den Grundzügen für beide Geschlechter. Man kann aber trotzdem erkennen, daß die Autoren bei der Niederschrift der Regeln in erster Linie an den Mann und seine Anatomie gedacht haben – schon weil sie meist im Kapitel über die Männerkrankheiten erklärt werden.

In der Tat nahm man an, daß die Samenflüssigkeit schwere Erkrankungen auslösen könne. Sie mußte nach dieser Auffassung nämlich regelmäßig aus dem Körper ausgeschieden werden, üblicherweise durch Geschlechtsverkehr.

Man stellte sich das Ganze folgendermaßen vor: Da der Samen im Körper über mehrere Stufen aus der Nahrung erzeugt wird, entsteht er ständig neu und füllt nach und nach die Samengefäße auf. Wenn diese nun nicht rechtzeitig entleert werden, so „verrottet“ der angestaute Samen im Körper und produziert dabei Hitze. Diese überträgt sich auf die inneren Organe – unter anderem auf das Herz – und erwärmt sie. Die Erwärmung des Herzens führt zu Fieber, durch das Dämpfe entstehen. Diese steigen ins Gehirn auf und rufen dort verschiedene schwere Krankheiten hervor, unter anderem die berüchtigte Melancholie. Zu wenig Geschlechtsverkehr ist also gesundheitsschädlich, denn dann wird die Samenflüssigkeit nicht oft genug aus dem Körper ausgeschieden, staut sich und richtet Schaden an

Aber auch wenn man zuviel Samenflüssigkeit abführt, also zu oft Geschlechtsverkehr hat, so schwächt dies den Körper. Dadurch werden ihm nämlich zuviel Wärme und Feuchtigkeit entzogen, und das kann ebenfalls zu schweren Erkrankungen führen. Hat man zum falschen Zeitpunkt Geschlechtsverkehr, so ist der Körper nicht in der richtigen Verfassung für den Verlust von Wärme und Feuchtigkeit. Das ist also ebenfalls riskant für die Gesundheit. Es kommt deshalb aus medizinischer Sicht darauf an, den rechten Zeitpunkt für den Geschlechtsverkehr herauszufinden.

Da aber jeder Körper ein eigenes Temperament und jeder Mensch eigene Lebensgewohnheiten hat, kann man dafür nur sehr allgemein gefaßte Regeln angeben und keine genauen Zeitpunkte. Zum Beispiel soll man weder mit vollem noch mit ganz leerem Magen Geschlechtsverkehr haben. Jeder Mensch muß deshalb selbst darauf achten, wann sein Körper ihm das Signal gibt, daß die Samengefäße voll sind und entleert werden sollten. Dies geschieht durch die in den meisten Werken so bezeichnete „wahre Begierde“ (šahvat-e ṣādeq). Man erkennt sie daran, daß sie sich ganz von selbst als natürliches Bedürfnis des Körpers einstellt – ohne Erregung von außen durch Phantasien, Flirt oder Zärtlichkeiten.

Nur wenn der Geschlechtsverkehr also zur rechten Zeit und im rechten Maß ausgeübt wird, so erfüllt er auch seinen Zweck, den Körper gesund zu erhalten. Nur dann führt der Geschlechtsverkehr nicht zu Krankheiten. Die rechte Zeit ist, wenn die „wahre Begierde“ vorhanden ist. Das rechte Maß hält man ein, solange die „wahre Begierde“ anhält und der Körper keine Anzeichen von Schwäche zeigt.

Selbstverständlich weist die Medizinliteratur dem Geschlechtsverkehr auch noch einen weiteren wichtigen Zweck zu: die Fortpflanzung. Doch das ist, wie schon gesagt, ein eigenes Thema.

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