Vor einiger Zeit habe ich hier erläutert, wie man sich gemäß der Humoralmedizin den menschlichen Körper und sein Temperament vorgestellt hat. Dabei bin ich im letzten Blogbeitrag zum Thema Medizin, Körper und Geschlecht von der graeco-islamischen Medizinliteratur ausgegangen, und dasselbe tue ich in diesem Beitrag auch. Hauptsächlich beschäftige ich mich dabei mit der Medizinliteratur in persischer Sprache und in diesem Beitrag besonders mit Passagen aus einer Enzyklopädie des frühen 12. Jahrhunderts, die in Umfang und Gestaltung große Ähnlichkeit mit dem Canon von Avicenna hat: der Ẕaḫīre-ye Ḫvārazmšāhī (sprich: Zachîre-ye Chârazmschâhî) von Sayyed Esmāʿīl-e Ǧorǧānī (sprich: Dschordschânî). Aus ihr stammen auch die kurzen Zitate weiter unten.
Doch zurück zum Temperament! Noch einmal kurz zusammengefaßt, hängt das Temperament eines Menschen vom Mischungsverhältnis seiner Köpersäfte ab: dem Blut, der Schwarzen Galle, der Gelben Galle und dem Schleim (auch: Phlegma). Jeder dieser Körpersäfte hat bestimmte Qualitäten: von trocken und heiß bis feucht und kalt. Und da in jedem Körper mindestens ein Körpersaft überwiegt und sich danach das Temperament eines Menschen bestimmt, prägen auch die Qualitäten des vorherrschenden Körpersaftes das Temperament dieses Menschen. So kann man beispielsweise von einem Menschen sagen, sein Temperament sei heiß und trocken.
Aber es gibt nicht nur individuelle Unterschiede. Auch das Lebensalter spielt eine Rolle. Jüngere Menschen haben ein wärmeres und feuchteres Temperament als ältere Menschen. Und natürlich hat auch das Geschlecht Einfluß auf die Qualitäten des Temperaments eines Menschen.
Grundsätzlich werden die Temperamente von Männern und Frauen als gegensätzlich vorgestellt: Während das Temperament der Männer im Vergleich zu dem der Frauen als heiß und trocken gilt, wird das Temperament der Frauen entsprechend als vergleichsweise kalt und feucht verstanden. Das heißt: Auch wenn ein Mann im Vergleich zu anderen Männern ein kaltes und feuchtes Temperament hat, ist nach dieser Vorstellung sein Temperament immer noch heißer und trockener als das einer Frau, deren Temperament im Vergleich zu dem anderer Frauen heiß und trocken ist.
Daher sind die Geschlechtsorgane der Frauen zwar analog zu denen der Männer gestaltet, aber nach innen gewölbt, quasi „eingestülpt“. Beim Mann nämlich, so die Vorstellung, sorgt die größere Hitze des Temperaments dafür, daß die Geschlechtsorgane voll ausreifen und nach außen treten. Da das Temperament der Frauen kälter ist, reifen ihre Geschlechtsorgane nicht so weit wie die des Mannes und verbleiben deshalb im Körper. Frauen haben also weniger gut ausgereifte Geschlechtsorgane als Männer und sind damit gewissermaßen Mängelwesen.
Doch das vergleichsweise kalte und feuchte Temperament von Frauen wirkt sich nicht nur auf die Geschlechtsorgane aus. Denn die relative Hitze des Temperaments führt bei den Männern dazu, daß bei ihnen alle “Kräfte” stärker ausgeprägt sind – so auch die für das Fühlen, Denken und zielgerichtete Handeln zuständige Kraft. Und das – Sie werden es schon ahnen – führt natürlich dazu, daß die “Handlungen, Maßnahmen und Gedanken” der Männer “besser und richtiger (beh-tar va dorost-tar)” sind als die der Frauen (Ẕaḫīre, Bd. 1, S. 18). Mit anderen Worten: Frauen sind den Männern auch geistig unterlegen, weil ihr Temperament kälter und feuchter ist.
Was es aber bedeutet, daß die Geschlechtsorgane der Frau als weniger ausgereifte Spielart der Geschlechtsorgane des Mannes verstanden wurden, darauf komme ich im nächsten Medizinbeitrag zu sprechen. Darin soll es um den Geschlechtsverkehr gehen.
Quelle
Ǧorǧānī, Sayyed Esmāʿīl: Ketāb-e Ẕaḫīre-ye Ḫvārazmšāhī. Be taṣḥīḥ-o taḥšiye-ye Moḥammad-Reżā Moḥarrerī. 3 Bde. [Tehrān]: Farhangestān-e ʿolūm-e pezeškī-ye Ǧomhūrī-ye Eslāmī-ye Īrān, 1380 š./2001-1386 š./2007. Hier: Buch 1, Diskurs 2, Kapitel 4: Über die Kenntnis des Temperaments von Männern und Frauen, Bd. 1, S. 17f.
Literatur
Patrick Franke, “Before scientia sexualis in Islamic culture: ʿilm al-bāh between erotology, medicine and pornography”, in: Social Identities 18,2 (2012) 161-173.
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