Wesir der Seldschuken: Ein Sultan wird erwachsen und die Lage angespannt

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Wie wir in der letzten Folge gesehen haben, war der Nezâm unter Malek-Schâh so mächtig geworden, daß man gelegentlich liest, er sei der „eigentliche Herrscher“ des Seldschukenreiches gewesen (z.B. in der Wikipedia, aber nicht nur dort). Das mag damit zu tun haben, daß der Historiker Ibn al-Athîr, wie im Wikipedia-Artikel zutreffend beschrieben, von „ad-daula an-nizâmiyya“ spricht, also von der „nezâmischen Regierung“. Im Artikel zu Malek-Schâh in der Encyclopaedia Iranica sind eine weitere Quelle und mehrere Werke aus der Forschungsliteratur aufgeführt, in deren Darstellung der Nezâm mächtiger war als Malek-Schâh. Doch der Verfasser des Artikels ist nicht dieser Auffassung. Malek-Schâhs Rolle als Oberbefehlshaber der Armee und seine erfolgreichen Feldzüge seien wesentlich für die innere Stabilität des Reiches und nicht zuletzt für die Einnahmen gewesen, die Autorität des Sultans zu Malek-Schâhs Zeit daher stärker denn je.

Tatsächlich zeigte sich ungefähr ab der Mitte von Malek-Schâhs zwanzigjähriger Herrschaftszeit, daß der Sultan keineswegs Wachs in den Händen seines Wesirs war und sich durchaus nicht alles bieten ließ. Zu dieser Zeit war Malek-Schâh ein erwachsener Mann von fast dreißig Jahren und ein erprobter Heerführer. Daher traf er nun auch eigene Entscheidungen gegen den Rat des Nezâm. So entließ er im Jahr 1081 siebentausend Soldaten aus seinem Dienst, die prompt zu seinem rebellierenden Bruder Tekisch überliefen. Der Nezâm hatte davor gewarnt, da er vorausgesehen hatte, daß die entlassenen Krieger sich wohl oder übel einen neuen Herrn suchen würden, der Verwendung für ihre Kampfkraft hatte. Was hätten sie auch sonst tun sollen? Erst nach mehreren Jahren gelang es Malek-Schâh, Tekisch endgültig zur Strecke zu bringen.

Der Sultan setzt seine Autorität durch

Um das Jahr 1082 war Malek-Schâh also der väterlichen Fürsorge des Nezâm bereits entwachsen, und die Gegner des Nezâm versuchten, sich dies zunutze zu machen. So kam es, daß ein Hofnarr Malek-Schâhs in Esfahân sich vor dem Sultan gegen den Nezâm aussprach und einen anderen Mann als Wesir empfahl. Nun befanden sich Hofnarren in der besonderen Position, straflos alles mögliche zu einem Herrscher sagen zu dürfen, und man mag sich fragen, wie ernst solche Äußerungen zu nehmen waren. Doch da der Nezâm immer wieder unter Beschuß geriet und Intrigen gegen ihn gesponnen wurden, nahm sein ältester (oder zweitältester) Sohn Dschamâl ol-Molk (arabisch: Dschamâl al-Mulk) diese Äußerungen sogar bitterernst, als er von ihnen hörte.

Dieser Sohn des Nezâm war Statthalter in Balch, also im Osten des Reiches (heute Afghanistan), und reiste wutentbrannt nach Esfahân, als ihm die Äußerungen des Hofnarren zu Ohren kamen. Dort angekommen, ließ er dem Hofnarren die Zunge von hinten herausreißen – der Mann starb natürlich an dieser Bestrafung. Damit nicht genug, wirkte Dschamâl ol-Molk darauf hin, daß der Mann, den der Hofnarr als Wesir vorgeschlagen hatte, festgenommen und geblendet wurde.

Nun war der Sultan seinerseits genötigt einzuschreiten, denn es war sein Vorrecht, Körperstrafen anzuordnen (wie wir zum Beispiel im „Buch der Staatskunst“ des Nezâm lesen). Dschamâl ol-Molk hatte folglich seine Kompetenzen überschritten und sich Vorrechte des Sultans angemaßt. Das durfte nicht ungestraft bleiben, und als Dschamâl ol-Molk zusammen mit Sultan und Wesir wieder zurück nach Chorâsân reiste, ließ Malek-Schâh den Sohn des Nezâm still und leise durch Gift aus dem Weg räumen. Als Dschamâl ol-Molk in Nischapur starb, war sein Vater dem Sultan bereits einige Tagesreisen vorausgeritten und der Sultan selbst ebenfalls aufgebrochen. Malek-Schâh beeilte sich nun, zu seinem Wesir aufzuschließen und tröstete den Nezâm dann mit den Worten: „Ich bin doch dein Sohn und Ersatz für den Dahingeschiedenen! Und vor allem gehörst du zu denen, die sich fassen und durchhalten!“ (Schabingers Übersetzung der Quelle, S. 76; Nacherzählung der Geschichte ebenfalls nach Schabinger)

Wie väterlich die Gefühle des Nezâm für Malek-Schâh in diesem Moment gewesen sein dürften, kann man sich unschwer vorstellen. Doch er wußte selbst, daß sein Sohn eine Grenze überschritten hatte. Und obwohl Dschamâl ol-Molk die Autorität des Sultans durch sein Verhalten öffentlich infrage gestellt hatte, war Malek-Schâh bei seiner Bestrafung so diskret vorgegangen, daß weder die Position des Nezâm noch dessen übrige Söhne dadurch Schaden genommen hatten. Doch bei aller Rücksichtnahme Malek-Schâhs war nun ein für allemal klar, daß selbst die Familie des Nezâm vor dem Zorn des Sultans nicht sicher und Malek-Schâh ohne weiteres bereit war, auch gegen den Anhang seines mächtigen Wesirs entschieden durchzugreifen, wenn er seine eigene Autorität in Gefahr sah.

Konflikte zwischen Sultan und Wesir

Daß die Situation insbesondere nach dem Heranreifen des Sultans heikel wurde, kann man an weiteren Spannungen zwischen Malek-Schâh und dem Nezâm in der zweiten Hälfte von Malek-Schâhs Herrschaft erkennen. Allerdings gab es grundsätzlich viel Konfliktpotential bei der Machtverteilung zwischen einem Sultan und seinem Wesir, weil der Wesir in vielerlei Hinsicht als Vertreter des Sultans handeln mußte. Doch die Abgrenzung der Kompetenzen war oft alles andere als eindeutig festgelegt. So hatte der Wesir eine Menge Ermessensspielräume, und wenn es dem Sultan nicht gefiel, wie der Wesir diese nutzte, konnte das gefährlich werden. Auf dieses Grundproblem weist der Ausspruch eines hohen Verwaltungsfunktionärs der Ghaznaviden hin, der selbst nie das Wesirat anstrebte: „Nur die Dummen und Törichten bemühen sich darum, Wesir zu werden.“ (‚Oqeylî, S. 159, zitiert nach Bosworth, S. 70)

Erwartungsgemäß barg insbesondere das liebe Geld viel Potential für Meinungsverschiedenheiten. Eine wesentliche Angriffsfläche des Nezâm scheint daher sein Umgang mit den Finanzen gewesen zu sein, denn verschiedene Intrigen gegen den Nezâm machten sich dessen Umgang mit Steuergeldern zunutze, um den Wesir beim Sultan zu denunzieren. So beschuldigten Feinde des Nezâm diesen beim Sultan immer wieder, er nehme sich zu viel Geld oder Gelder, die ihm nicht zustünden, um damit seine breit gefächerte Patronage und seine private Sklaventruppe zu finanzieren. Einer der Denunzianten war übrigens der Mann, den Malek-Schâhs Hofnarr im Jahr 1082 anstelle des Nezâm für das Amt des Wesirs vorgeschlagen hatte und den kurz darauf der sicher nicht unverdiente Zorn des Dschamâl ol-Molk ereilte.

Aus den Quellen läßt sich nicht so ohne weiteres rekonstruieren, ob das Verhalten des Nezâm nach den herrschenden Regeln wirklich nicht korrekt war oder ob sich seine Gegener nur die Gier des Sultans nach höheren Einnahmen zunutze machten. Diesem Thema müssen wir uns bei anderer Gelegenheit gesondert zuwenden. Klar ist jedoch, daß der Umgang des Nezâm mit den Steuergeldern als problematisch und als Angriffsfläche betrachtet wurde.

Der Nezâm bleibt fest im Sattel

Allerdings hatte keine der Intrigen je Erfolg. Das mag an der gefestigten Machtposition des Nezâm gelegen haben, der ja auch die meisten wichtigen Verwaltungsposten im Reich mit seinen Verwandten und Anhängern besetzt hatte. Es gibt aber auch eine Anekdote, die darauf hindeutet, daß der Sultan bei aller eigenen Macht und gewachsenen Selbständigkeit doch nicht riskieren wollte, den Nezâm abzusetzen und es damit auf eine ernsthafte Konfrontation ankommen zu lassen.

Im Jahr 1083 bot einer der Feinde des Nezâm dem Sultan an: „Übergib mir Nezâm ol-Molk, und ich übergebe dir eine Million Dinar, denn sie (sc. der Nezâm und seine Anhänger) haben das Land aufgezehrt.“ Das kam dem Nezâm zu Ohren, und er ließ seine gesamte Truppe von Militärsklaven in voller Bewaffnung auf einem Teppich Aufstellung nehmen, zeigte sie dem Sultan und sagte: „Ich habe dir gedient und deinem Vater und deinem Großvater und habe ein Anrecht auf Anerkennung meiner Verdienste (haqq chidma). Jetzt hast du erfahren, daß ich deine (Steuer-)Gelder nehme, und derjenige, der das gesagt hat, hat die Wahrheit gesprochen.“ Dann erklärte er, daß er die Gelder verwende, um diese Truppe zu unterhalten, die er für den Sultan zusammengestellt habe. Außerdem gebe er die Gelder für Almosen, religiöse Stiftungen und Schenkungen aus, die allesamt den Ruf des Sultans verherrlichten. „Meine Güter und alles, was ich besitze, liegt vor dir, und ich begnüge mich mit Lumpen und einem Winkel.“ Daraufhin soll der Sultan mit dem Nezâm wieder im reinen gewesen sein. Jedenfalls bestrafte er den Gegner des Nezâm, der ihn gegen den Wesir aufgebracht hatte.

Subkî, aus dessen Werk ich diese Anekdote nacherzählt und in Teilen übersetzt habe, setzt allerdings hinzu, jemand anderes habe gesagt: „Im Inneren war der Sultan ihm gegenüber nicht reinen Herzens, sondern er (sc. der Sultan) erkannte seine Schwäche ihm (sc. dem Nezâm) gegenüber.“ Vielleicht kommt es ja daher, daß ich immer den Eindruck hatte, der Nezâm wollte dem Sultan mit dieser Vorführung nicht nur klarmachen, welchen Nutzen die Nizâmiyya-Truppe für seine Herrschaft hatte. Immerhin handelte es sich um eine beträchtliche Anzahl an Kriegern, die dem Nezâm mit Haut und Haaren ergeben waren – auch das wird in den Quellen mehr als deutlich. Diese Truppe des Nezâm ist in den Quellen unter der Bezeichnung „Nizâmiyya“ bekannt und soll – je nach Quelle – mehr als tausend bis hin zu mehr als zwanzigtausend Mann umfaßt haben. Aber machen Sie aus dieser Geschichte, was Sie möchten.

Arbeitsteilung und Rivalitäten

Natürlich bedeuten solche Zusammenstöße von Sultan und Wesir insbesondere auf dem Finanzsektor nicht, daß sich die beiden ständig in die Quere gekommen wären oder daß die Machtstellung des Nezâm die Position des Sultans ernsthaft in Gefahr gebracht hätte. Tatsächlich waren Sultan und Wesir in ihren Kernkompetenzen für ganz unterschiedliche Sphären zuständig, wie der Verfasser des Iranica-Artikels ausführt: Während der Sultan vor allem mit der Kriegsführung befaßt war und ein Hoflager inmitten seines Heeres unterhielt, lag die Machtbasis des Wesirs in den Städten, und er hatte die städtische Gesellschaft zu kontrollieren.

Zu Konflikten kam es also vor allem in den Bereichen, die für Sultan und Wesir gleichermaßen interessant waren wie eben die Steuergelder. Hier hatte der Wesir als Haupt der Verwaltung den ersten Zugriff, und so konnte sich der Sultan leicht übervorteilt vorkommen, wenn sein Vertrauen zum Wesir erschüttert wurde. Daß dies in der zweiten Hälfte von Malek-Schâhs Herrschaftszeit immer wieder zumindest vorübergehend geschah, weist jedoch auf eine für den Nezâm durchaus nicht unbedenkliche Entwicklung hin. Ungetrübt war das Verhältnis der beiden jedenfalls nicht mehr, und das sollte sich zum Ende hin noch dramatisch zuspitzen. Doch davon berichte ich Ihnen ein anderes Mal.

Literatur und Quellen

Clifford Edmund Bosworth: The Ghaznavids: Their Empire in Afghanistan and Eastern Iran 994:1040. Edinburgh 1963. S. 70.

David Durand-Guédy: “Malekšāh”, Encyclopaedia Iranica, online edition, 2012, abrufbar unter http://www.iranicaonline.org/articles/maleksah (zuletzt aufgerufen am 30.11.2014).

Susanne Kurz: · “Der Wesir als Konkurrent des Sultans? Der Hof des Nizâm al-Mulk-e Tûsî”. In: TOBIAS-lib. Online-Publikationsservice der Universität Tübingen. November 2009, http://tobias-lib.ub.uni-tuebingen.de/volltexte/2009/4311/. S. 10-17.

Nezâm ol-Molk, Abû ‘Alî al-Hasan b. ‘Alî b. Eshâq-e Tûsî: Siyar ol-Molûk (Siyâsat-nâme). Hg. Hubert Darke. 2. Aufl. Tehrân 1364 š./1985. Kapitel 11, S. 98 (Körperstrafen als Vorrecht des Sultans).

Seyf ed-Dîn Hâdschdschî b. Nezâm-e ‚Oqeylî: Âsâr ol-vozarâ‘. Be tashîh-o ta’lîq-e Dschalâl ed-Dîn-e Hoseynî-ye Ormavî. Tehrân 1337 š./1958. S. 159.

Karl Emil Schabinger Freiherr von Schowingen: Das Buch der Staatskunst: Siyâsatnâma. Aus dem Persischen übersetzt und eingeleitet von Karl Emil Schabinger Freiherr von Schowingen. Zürich 1987. Einleitung, S. 74-77 u. 82. Kapitel 11, S. 262 (Körperstrafen als Vorrecht des Sultans).

Tâdsch ad-Dîn Abû Nasr ‚Abd al-Wahhâb b. ‚Alî b. ‚Abd al-Kâfî as-Subkî: Tabaqât aš-Šâfi’iyya al-kubrâ. Hrsg. v. ‚Abd al-Fattâh Muhammad Hulw u. Mahmûd Muhammad at-Tanâhî. 2. Aufl., 1412 h./1992. Bd. 4. S. 325f.

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