Ein Kopist ist kein Kopierer. Das ist die grundlegende Erkenntnis eines jeden, der mit Handschriften arbeitet. Denn ein Kopist war ein Mensch, der vor den Zeiten des Buchdrucks, des Kopiergeräts und des Scanners oder gar der Buchdateien Bücher vervielfältigte.
Wer ein Buch besitzen wollte, mußte es entweder selbst abschreiben oder jemanden dafür bezahlen, daß er es abschrieb. Einen Kopisten eben. Daß dabei meist keine identischen Kopien herauskamen, kann sich jeder leicht denken, der je selbst einen Text abgeschrieben hat. Irgendein Fehler schleicht sich immer ein – besonders wenn man nicht versteht, was man abschreibt.
Ein Kopist ist eben kein Kopierer. Das klingt vielleicht banal. Aber es bedeutet, daß man in Handschriften überlieferte Bücher erst einmal edieren muß, um einen verläßlichen Text zu bekommen. Und „verläßlich“ soll heißen: einen Text, der möglichst nahe an das herankommt, was der Autor vor Jahrhunderten geschrieben hat. An das Original eben.
Auch das ist für Historiker nichts Neues. Allerdings macht es Forschung in Fächern, in denen viele wichtige Texte noch nicht kritisch ediert sind, ziemlich zeitaufwendig und nervenaufreibend.
Genau so eine Situation haben wir in den orientkundlichen Fächern häufig: Zentrale Texte sind entweder überhaupt nicht ediert oder nicht so, daß ein verläßlicher Text vorliegt.
Nun werden Sie vielleicht sagen: „Na ja, dann sind eben ein paar Wörter oder Sätze unsicher. Damit wird man doch leben können.“ Das kann zwar stimmen. Nur leider geht die Unsicherheit nicht selten viel weiter. Und das hat mit der Arbeitsweise orientalischer Kopisten zu tun.
Sie verstanden sich nämlich keineswegs als „Kopierer“ und ihre Aufgabe als möglichst exaktes Reproduzieren eines vorliegenden Textes. Vielmehr waren sie oftmals der Auffassung, sie müßten das vorliegende Werk noch „verbessern“.
Das konnte bedeuten, daß sie die Wortwahl und den Stil dem Geschmack ihrer Zeit anpaßten. Es konnte aber auch heißen, daß sie Passagen ergänzten, die ihrer Meinung nach fehlten, und andere wegließen, die ihnen überflüssig vorkamen. Auch religiöse und sonstige Vorlieben konnten hier Einfluß nehmen.
Dabei versuchten die Kopisten durchaus, mehrere Handschriften eines Werkes zu kollationieren, also miteinander zu vergleichen, um eine verbesserte neue Version daraus zu erstellen. So konnte es vorkommen, daß Abschnitte sogar doppelt abgeschrieben wurden, weil sie in unterschiedlichen Handschriften unterschiedliche Überschriften hatten und auch sonst nicht identisch waren.
Wenn die Kopisten nun beim Kollationieren bereits „verbesserte“ Versionen des Werkes benutzten und dieser Prozeß über Jahrhunderte hinweg mehrfach wiederholt wurde, können Sie sich vorstellen, wie weit manche späteren Handschriften vom Original entfernt sind.
Manchmal ist es sogar fast unmöglich, das Original zu rekonstruieren, denn spätere Handschriften sind nun mal öfter erhalten. Das ist zwar längst nicht bei allen orientalischen Werken der Fall, aber ich habe in den letzten Jahren ein Erotikwerk untersucht, bei dem fast jede Handschrift neue Überraschungen bereithielt.
Allein die zehn Handschriften, mit denen ich mich beschäftigt habe, enthalten fünf sehr unterschiedliche Texte, behaupten zum Teil aber trotzdem, vom selben Autor zu stammen – davon, daß sie denselben Titel tragen, einmal ganz abgesehen.
Selbst die Handschriften, deren Texte ungefähr übereinstimmen, sind deswegen inhaltlich noch keineswegs identisch. Da kann man sich schon fragen, ob die Suche nach dem Original überhaupt sinnvoll ist.
In jedem Fall ist es schwierig, solche Texte als Zeugnisse der Entstehungszeit des Originals zu untersuchen. Andererseits ist es nicht immer möglich, die Handschriften in ihr Entstehungsumfeld einzuordnen.
Wenn zum Beispiel weder das Datum der Kopie noch der Ort oder der Name des Kopisten oder Auftraggebers in der Handschrift eingetragen ist, dann kann man nur noch aufgrund äußerer Merkmale wie Materialien und Schriftarten oder Stil von Illustrationen einen ungefähren Zeitrahmen und eine Entstehungsregion schätzen.
Von all diesen Schwierigkeiten ganz abgesehen: Es ist natürlich auch anstrengender und dauert länger, eine Handschrift zu lesen als einen edierten Text.
Das fängt schon damit an, daß die Anfänge von Kapiteln im Text nicht immer gut zu erkennen sind. Wenn dann das Inhaltsverzeichnis fehlt oder keine korrekten Seitenangaben macht, ist es bei einer langen Handschrift schon die Hälfte der Arbeit, überhaupt die Stelle zu finden, die man lesen will.
Außerdem zeigt es sich oft, daß die Handschriften mit der klarsten, am besten lesbaren Schrift eine besonders korrupte Textvariante anbieten. Das heißt, daß dann für das Verständnis wichtige Wörter so falsch geschrieben sind, daß man das richtige Wort nur schwer erraten kann. Oder daß ganze Sätze oder Passagen grammatikalisch verdreht sind und keinen Sinn ergeben.
Ein Handschriftenexperte in einer Bibliothek in Teheran meinte dazu, daß die Kopisten mit der schönsten Schrift nicht unbedingt die Gebildetsten waren. Sie konzentrierten sich also darauf, schön zu schreiben, achteten dafür aber weniger auf den Sinn des Geschriebenen oder verstanden ihn einfach nicht richtig.
So konnten sie natürlich auch Fehler in ihren Vorlagen nicht korrigieren. Wenn dann zwei Vorlagen mit Fehlern an unterschiedlichen Stellen im Satz kombiniert wurden, wird der Satz unverständlich.
Und was muß der Forscher dann machen? – Richtig: Er muß die schwer lesbaren Kritzelhandschriften vornehmen (sofern welche existieren) und schauen, was dort steht.
Daß eine Schrift, bei der schon das Versetzen von Punkten Wörter verändern kann, ganz besondere Herausforderungen bietet, muß ich nicht erst unterstreichen.
In der arabischen Schrift kann aus einem Mädchen ganz schnell ein Haus werden:
بنت
bint = arabisch für „Tochter“
بیت
bait = arabisch für „Haus“
Und da man die Punkte nicht immer alle setzte… Darüber gibt es sogar Witze, aber die sind schwer zu übersetzen. Ich gebe ihnen trotzdem ein Beispiel:
Ein Schüler las vor seinem Meister den Satz „Der Hakîm Behzîn sagte“ als „Er sagte: Was soll ich Besseres tun als dies?“ Darauf der Meister: „Du tust besser daran, das Buch zuzuschlagen, nach Hause zu gehen und uns keine weitere Mühe zu bereiten.“
Und hier die beiden Sätze, die der Schüler verwechselt hat. Denken Sie sich die Punkte im letzten Wort einmal weg, dann werden Sie sehen, wie die Verwechslung möglich war:
قال بهزین حکیم
Es sagte Behzîn-e Hakîm
قال بهزین چکنم
Er sagte: Was soll ich Besseres tun als dies?
Das ist übrigens ein persischer Witz, kein arabischer. Auf persisch heißt „beh z-în“ tückischerweise „besser als dies“. 😉 Aber fragen Sie mich nicht nach der Quelle! Ich bin fast sicher, es ist ‚Obeyd-e Zâkânî, und wahrscheinlich hat der Lehrer auch einen bekannten Namen, aber ich habe den Witz dieses Mal aus dem Kopf nacherzählt und nicht nachgeschlagen. 🙂
Pingback: [Persophonie] Auf der Suche nach dem Original – #Iran