Sufi-Scheich gegen Religionsgelehrter – ʿObeyd-e Zâkânîs Anekdoten über Dargazînî und Îdschî

Stellen Sie sich vor: Sie sind kompetent auf Ihrem Arbeitsgebiet und erbringen ausgezeichnete Leistungen. In Ihrer unmittelbaren Umgebung bei der Arbeit weiß das auch jeder, aber in andere Abteilungen oder gar bis zum Chef der Firma hat es sich nicht herumgesprochen. Dafür gibt es einen Kollegen, der sein Arbeitsgebiet auch sehr gut beherrscht, aber viel mehr Kontakte hat und deshalb bei der halben Firma bekannt ist und kürzlich befördert wurde.

Wären Sie eifersüchtig auf diesen Kollegen? – Wenn ja, dann haben Sie den idealen Ausgangspunkt, um sich in den Religionsgelehrten Moulânâ ʿAzod od-Dîn-e Îdschî (st. 1355) hineinzuversetzen. Oder zumindest in die Version dieses Religionsgelehrten, die uns in ʿObeyd-e Zâkânîs (st. ca. 1371) humoristischen Anekdoten immer mal wieder begegnet.

In diesen Anekdoten begegnet der bekannte Gelehrte und Qâdî ʿAzod od-Dîn-e Îdschî nämlich immer wieder einem ebenso berühmten Sufi-Scheich: Scharaf od-Dîn-e Dargazînî (st. 1342). Und Îdschî verhält sich diesem Scheich gegenüber grundsätzlich sehr aggressiv, ohne direkt provoziert worden zu sein. Ein Beispiel für seine scharfzüngigen Attacken ist die folgende Anekdote:

Scheich Scharaf od-Dîn-e Dargazînî fragte Moulânâ ʿAzod od-Dîn: „Wo hat Gott der Erhabene die Scheiche im Koran erwähnt?“ Antwort: „Neben den Gelehrten (ʿolamâ) an der Stelle, wo er sagt: »Sind (etwa) diejenigen, die Bescheid wissen (yaʿlamûn), denen gleich(zusetzen), die nicht Bescheid wissen?«“ [Paret: Sure 39,9] (274)

Um diese Pointe zu verstehen, muß man wissen, daß das arabische Wort für „Religionsgelehrter“ – ʿâlim, im Plural: ʿulamâ‘ – von derselben Wortwurzel stammt wie das Wort „wissen“ (ʿalima, im Plural Präsenz: yaʿlamûn) und wörtlich auch nichts anderes als „Wissender“ bedeutet. „Diejenigen, die Bescheid wissen“ (yaʿlamûn) in dem Koranvers identifiziert Îdschî deshalb als die Gelehrten, um die Scheiche dann wenig charmant als diejenigen zu bezeichnen, „die nicht Bescheid wissen“.

Mit Blick auf Dargazînî ist das übrigens ziemlich unfair, denn dieser war nicht nur Sufi-Scheich, sondern auch schâfiʿitischer Rechtsgelehrter genau wie Îdschî selbst auch. Das dürfte seinen Groll auf Dargazînî aber auch nicht eben besänftigt haben. Daß seine Aggressivität in einem Gefühl der Eifersucht begründet gewesen sein könnte, darauf deutet die folgende Anekdote hin:

Scheich Scharaf od-Dîn-e Dargazînî und Moulânâ ʿAzod od-Dîn waren im Hause eines Großen. Als das Essen aufgetragen wurde, begannen die Leute aus dem Volk zu rumoren: „Wir wollen den Segen des Scheichs!“ Einer erkannte Moulânâ ʿAzod od-Dîn nicht und sagte: „Herr, gib mir ein Stück vom Halbgenossenen des Scheichs!“ Moulânâ sagte: „Das Halbgenossene des Scheichs fordere von einem anderen, denn ich habe, was der Scheich ganz genossen hat!“ (S. 295)

Îdschî wird hier also nicht erkannt, während der Mensch, der ihn anspricht, Dargazînî so verehrt, daß er eine Kontaktreliquie von ihm haben möchte – nämlich ein Stück angebissenes Essen. Îdschî mißversteht das absichtlich und verwendet ein Wortspiel um anzudeuten, daß Dargazînî ihm zu willen gewesen ist. Das, was der Scheich angeblich „ganz genossen“ – oder eben „in sich aufgenommen“ – hat, ist nämlich Îdschîs bestes Stück.

So eine Behauptung ist extrem rufschädigend. Man war zwar der Auffassung, es tue der Männlichkeit keinen Abbruch, wenn ein Mann einen anderen Mann penetrierte – immerhin war das eine „männliche“ Handlung, wie sie ja auch an Frauen durchgeführt wurde. Wenn aber ein erwachsener Mann sich penetrieren ließ, dann begab er sich damit gewissermaßen in die Lage einer Frau (oder eines „Nicht-Mannes“, doch dazu mehr ein anderes Mal). Und das war entwürdigend.

Îdschîs Bemerkung ist also mehr als spitz und deutet auf erheblich gekränkte Eitelkeit hin. Nicht nur, daß der Mann aus dem Volk ihn, den berühmten Gelehrten und Qâdî nicht kennt! Er will ihn auch noch zum Mittelsmann machen, um sich an der Verehrung Dargazînîs als eines Heiligen zu beteiligen, dessen bloße Berührung schon Segen spendet!

Ein klarer Fall von Eifersucht, wenn Sie mich fragen, aber doch irgendwie verständlich. Immerhin waren die Religionsgelehrten wichtige Bewahrer der Tradition, hochgebildet und verstanden sich als Autoritäten in religiösen Fragen.

Doch die Sufi-Scheiche gewannen gerade zu dieser Zeit Einfluß beim Volk, da man ihnen Wundertaten zuschrieb und sie wegen der damit einhergehenden Segenskraft auf bei den Mächtigen hoch angesehen waren und sich als Fürsprecher betätigten. Davon, daß die Sufis oft in ihren Niederlassungen auch eine Armenküche unterhielten und Speisen an Bedürftige ausgaben, gar nicht zu reden.

Und was sagen uns diese Anekdoten über den historischen Îdschî und sein Verhältnis zu dem eine Generation älteren Dargazînî? – So ganz eindeutig läßt sich das wie üblich nicht beantworten. Doch eines ist klar: Îdschî war zu dem Zeitpunkt, zu dem ʿObeyd seine Anekdotensammlung abfaßte, entweder noch am Leben oder erst kürzlich verstorben.

Wir müssen also davon ausgehen, daß Îdschî für die Leser/Hörer noch eine bekannte Größe war und daß ʿObeyd das berücksichtigt hat. Selbst wenn es sich also nicht um wahre Begebenheiten handelt – was nicht völlig auszuschließen ist -, so müssen die Anekdoten doch irgendwie zu Îdschî passen, um plausibel zu klingen. Vermutlich hatte er also tatsächlich eine scharfe Zunge und möglicherweise sogar eine Rivalität mit Dargazînî.

Möglich ist das jedenfalls, denn beide haben sich zeitweilig im Umfeld des letzten Îlchâns Abû Saʿîd (st. 1335) aufgehalten.

Quelle

Nezâm od-Dîn ʿObeydollâh-e Zâkânî: Kolliyyât-e ʿObeyd-e Zâkânî. Unter Heranziehung d. Ausg. v. ʿAbbâs-e Eqbâl hrsg. u. mit Übers. aus d. Arab. versehen v. Parvîz-e Atâbakî. 2. Aufl. Tehrân 1343 sch./1964-5. 274, 295.

Literatur

Susanne Kurz: „Eine biographische Hintertreppe? Das Nachleben bekannter Gelehrter in persischen humoristischen Anekdoten“. In: Differenz und Dynamik im Islam. Festschrift für Heinz Halm zum 70. Geburtstag. Herausgegeben von Hinrich Biesterfeldt und Verena Klemm/Difference and Dynamism in Islam. Festschrift for Heinz Halm on his 70th Birthday. Edited by Hinrich Biesterfeldt and Verena Klemm.  Würzburg: Ergon, 2012. 433-451.

Rudi Paret: Der Koran: Kommentar und Konkordanz. Mit einem
Nachtrag zur Taschenbuchausgabe. 5. Aufl. Stuttgart u. a.: Kohlhammer, 1993.

Bildnachweis

Beitragsbild: Gelehrte in einer Bibliothek in Bagdad aus einer Handschrift der Maqâmât des Harîrî aus dem 13. Jahrhundert
Quelle: Wikimedia Commons
Public domain

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