Es ist schon etwas länger her, daß ich mich aufgrund einer Diskussion hier auf dem Blog mit dem Thema Leichensektionen im muslimischen Mittelalter befaßt habe.
Damals habe ich eine erste Antwort auf die Frage gegeben, ob Leichensektionen im Mittelalter von Muslimen als verboten betrachtet und deshalb nicht durchgeführt wurden. Die Antwort lautete: Nein, es gab kein Verbot. Basis dafür war die Darstellung in einem Überblickswerk zur Medizin in der islamischen Kultur von Peter Pormann und Emilie Savage-Smith.
Der betreffende Abschnitt in diesem Werk ist allerdings sehr kurz und speist sich wesentlich aus einem zwar schon älteren, aber sehr ausführlichen Aufsatz von Emilie Savage-Smith. Deshalb wollte ich mir diesen Aufsatz einmal anschauen, um mehr Details zu erfahren. Hier sind die Ergebnisse.
Leichensektionen – vom religiösen Gesetz verboten?
Das Gerücht, daß Leichensektionen durch das religiöse Gesetz im Islam verboten seien, ist so verbreitet, weil man es auch in der Fachliteratur findet. Allerdings in der Regel ohne Angabe von Quellen, die ein solches Verbot bestätigen würden.
Es gab zwar Verstümmelungsverbote, aber andererseits wird in der islamischen Rechtsliteratur auch der Grundsatz vertreten, das Wohl der Lebenden sei wichtiger als die Unversehrtheit von Toten.
Ein regelrechtes Verbot der Sektion menschlicher Körper hat Emilie Savage-Smith in der islamischen Rechtsliteratur jedenfalls nicht gefunden. Ja, es gibt noch nicht einmal eine Diskussion über diese Frage.
Aber wie in der Wissenschaft üblich ist es nicht ganz so einfach und die Sache damit folglich auch noch nicht erledigt.
So räumt Savage-Smith ein, daß weite Teile der Rechtsliteratur noch nicht erforscht sind und man deshalb aus ihrem Befund keine sicheren Schlüsse ziehen kann. Aber Forschungsergebnisse sind ja immer vorläufig.
Auf der anderen Seite wurden Galens Äußerungen zur Leichensektion ins Arabische übersetzt und jahrhundertelang in der medizinischen Literatur weitertradiert. Dabei wurde seine Empfehlung zum praktischen Studium der Anatomie durch Sektionen nicht verändert oder kritisiert – was bei anderen, als anstößig empfundenen Punkten durchaus getan wurde.
In der medizinischen Literatur waren Leichensektionen also durchaus ein Thema, und hier wurden sie nicht als problematisch betrachtet. Allerdings gibt es eine Äußerung des Ibn an-Nafîs (st. 1288), der sowohl Mediziner als auch Rechtsgelehrter war, daß das religiöse Gesetz von Leichensektionen abschrecke.
Auch er spricht aber nicht von einem Verbot. Trotzdem deutet dies darauf hin, daß die tatsächliche Durchführung von Leichensektionen als problematisch empfunden wurde oder werden konnte. Dies könnte daran liegen, daß die Muslime von einer körperlichen Auferstehung am Jüngsten Tag ausgehen und nicht wirklich geklärt war, inwiefern sich Eingriffe an Leichen hierauf auswirken konnten.
Gleichzeitig kann eine Bemerkung in der Beschreibung des menschlichen Herzens von Ibn an-Nafîs so gedeutet werden, daß er womöglich selbst einen menschlichen Körper seziert hat. Sicher ist dies allerdings nicht.
Gab es tatsächlich Leichensektionen?
Momentan scheint die Frage, ob Muslime im Mittelalter Leichen seziert haben, noch nicht eindeutig geklärt zu sein. Verboten war es ihnen zwar nicht, doch man hatte offensichtlich Hemmungen.
Daß in der Rechtsliteratur nach bisherigem Erkenntnisstand überhaupt nicht über das Thema diskutiert wurde und daß in medizinischen Schriften keine eindeutigen Hinweise auf durchgeführte Sektionen zu finden sind, scheint das Fehlen einer Praxis nahezulegen. Oder die Praxis fand mehr oder weniger heimlich statt und wurde deshalb nicht beschrieben.
Mit anderen Worten: Wir haben kaum Anhaltspunkte dafür, daß Leichensektionen vorgenommen wurden, geschweige denn eindeutige Aussagen darüber.
Savage-Smith nennt neben religiösen Skrupeln mehrere mögliche Gründe hierfür:
- Leichen verwesten im Klima der islamischen Kernländer sehr schnell, und entsprechend unangenehm war es, sie näher zu untersuchen.
- Es gab innerhalb der Gerichtsbarkeit anscheinend kein Interesse daran, Leichen mit Blick auf die Todesursache zu untersuchen – was ebenfalls zur Entwicklung einer Sektionspraxis geführt hätte.
- Die aus dem Griechischen übertragene anatomische Literatur war umfangreich und detailliert, so daß vermutlich kaum das Bedürfnis vorhanden war, sie durch eigene Forschungen zu ergänzen – obwohl Galen genau das empfohlen hat. Es fehlte also die praktische Notwendigkeit.
Fazit
Leichensektionen waren im muslimischen Mittelalter zwar nicht vom Religionsgesetz verboten. Aber man scheute sich dennoch, sie durchzuführen und hat dies vermutlich auch nicht als notwendig betrachtet. Wahrscheinlich sind Leichensektionen also selten oder nur heimlich durchgeführt worden – und über letzteres läßt sich nur schwer etwas herausfinden.
Literatur
Emilie Savage-Smith: „Attitudes toward dissection in medieval Islam“. In: Journal for the History of Medicine 1 (1995), 68-111.
Peter E. Pormann/Emilie Savage-Smith: Medieval Islamic Medicine. Edinburgh: Edinburgh University Press, 2007. S. 60.
Bildnachweis
Beitragsbild: Satz verschiedener Skalpelle
Quelle: Wikimedia Commons
Gemeinfrei/Public Domain
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