Wie Sie wissen, habe ich es ja sonst mehr mit dem Lachen – oder dem, was es im Idealfalls auslöst, nämlich mit Witzen. Aber heute möchte ich Sie ausnahmsweise zum Thema Weinen erhellen. Denn darauf und auf die kulturellen Unterschiede rund ums Weinen bin ich im letzten Semester mal wieder im Unterricht gestoßen.
Wir befaßten uns mit einer Passage über den berühmten Seldschukenwesir Nezâm ol-Molk (st. 1092), der eben einen seiner erwachsenen Söhne kurz empfangen und sogleich weiter nach Bagdad geschickt hat. Der darauf folgende Abschnitt lautet ungefähr so (mit ein paar stilbedingten Vereinfachungen):
Nezâm ol-Molk wandte sich den Anwesenden zu und sagte mit Tränen in den Augen: „Das Leben eines Gemischtwarenhändlers ist wahrlich besser als meines. Morgens geht er in sein Geschäft, und abends kommt er mit dem zurück, was ihm an Lebensunterhalt zuteil geworden ist, und seine Kinder versammeln sich um ihn beim Essen, und er erfreut sich an ihrer Gegenwart und ihrer Nähe zu ihm. Ich dagegen habe diesen meinen Sohn, seit er geboren wurde, nur wenige Male gesehen, und er ist schon so weit herangewachsen und weiß nichts von meiner Zärtlichkeit und Liebe. Meine Tage sind voller Gefahren, Mühen und Plagen, meine Nächte voll Wachen und Gedanken darüber, wie ich die Gebiete verwalte, wen ich in Ämter einsetze und mit wieviel Geschenken und Wohltaten bedenke und wie ich diesen Sultan zufriedenstelle, damit er mir gewogen bleibt und sich nicht gegen mich wendet, und wie ich das Übel abwende, das mir diejenigen wollen, die Ränke gegen mich schmieden. Wann bleibt mir da Zeit, mich an meinem Wohlstand zu erfreuen oder mich mit Dingen zu befassen, die mir nutzen, wenn ich dereinst meinem Herrn gegenübertrete?“ Und er weinte heftig. (Subkî, Bd.4, S. 321)
Nach der Lektüre dieses Abschnitts wunderte sich ein Student darüber, daß das öffentliche Weinen für einen so mächtigen Mann wie den Nezâm anscheinend kein Problem war. Ich konnte nur bestätigen, daß Weinen ganz offensichtlich nicht als ehrenrührig betrachtet wurde.
Diese Episode ist nämlich nicht die einzige, in der geschildert wird, wie der Nezâm vor Zeugen ganz ungehemmt in Tränen ausbricht. Da es sich bei fast allen Darstellungen um deutlich spätere, sehr positive Schilderungen handelt, die den Wesir als vorbildliche Persönlichkeit zeichnen, dürfte auch nicht die Absicht dahinterstehen, sein Ansehen zu untergraben.
Völlig akzeptabel und sogar vorbildlich sind natürlich Tränen, die er vor Bewegung über das Glück vergießt, das ihm im Laufe seines Lebens zuteil geworden ist, oder über seine eigene Sündhaftigkeit, an die er freundlich, aber bestimmt erinnert wird.
Vor allem mit der letztgenannten Regung befindet er sich in guter Gesellschaft. Denn gute Religionsgelehrte oder Asketen weisen mächtige Männer typischerweise darauf hin, daß auch sie beim Jüngsten Gericht Rechenschaft über ihr Tun ablegen müssen. Und gute Machthaber lassen sich davon anrühren, reagieren mit Tränen und schreiben sich die Mahnung hinter die Ohren.
Doch auch Trauer über versäumte Freuden wie im angeführten Beispiel darf den mächtigen Mann zu Tränen rühren, ohne daß es seinem Ansehen Abbruch täte.
Das läßt sich auch in anderen Texten dieser Zeit (und natürlich auch anderer Zeiten) erkennen: Soheila Amirsoleimani hat für einen Aufsatz über Frauen in Abo l-Fazl-e Beyhaqîs „Geschichte des Masʿûd von Ghazna“ (ebenfalls 11. Jahrhundert) einmal durchgezählt und immerhin 44 Passagen gefunden, in denen weinende Männer erwähnt werden. Darunter sind auch Passagen, in denen aus Furcht um das eigene Leben geweint wird. (Und nein: Mein E-Book heißt nicht deshalb „Das weinende Schreibrohr“! 😉 )
Mehr oder weniger öffentliches Weinen war also auch für Männer kein Problem. Nicht einmal für die Bildungs- und Herrschaftseliten, über die wir die meisten Informationen haben. Grundsätzlich ist dieser Unterschied zur deutschen Kultur in Iran und anderen islamisch geprägten Ländern auch heute noch spürbar.
Dagegen waren wir in Deutschland lange von Sprüchen wie „Ein Indianer kennt keinen Schmerz“ und „(Echte) Männer/Jungen weinen nicht“ geprägt. Weinen gilt bei uns unabhängig vom Auslöser doch eher als Zeichen von Schwäche und erscheint in der Öffentlichkeit nur in wenigen Situationen akzeptabel (wie z.B. bei Trauerfeiern).
Ich werde nie die Geschichte vergessen, die wir in der 8. Klasse über einen nordischen Krieger (vermutlich des frühen Mittelalters) gelesen haben: Der Mann bekam eine Keule oder dergleichen auf den Kopf, so daß der Knochen seiner Augenbraue gebrochen war. Aber er klagte nicht, nahm einfach ein Tuch, band sich die Braue hoch und kämpfte weiter. Das ist ein völlig anderer Blickwinkel auf das Thema „Gefühle zeigen“ – oder eben nicht.
Natürlich spiegelt das nicht gerade die moderne deutsche Alltagskultur wider, aber es fällt mir bei diesem Thema einfach immer ein. Vielleicht hat sich auch in den letzten dreißig Jahren schon wieder manches geändert. Mir scheint jedenfalls, daß es nicht mehr so ehrenrührig ist, wenn Männer öffentlich Gefühle wie Trauer oder Schmerz zeigen. Was meinen Sie?
Quelle und Literatur
as-Subkî, Tâdsch ad-Dîn Abû Nasr ʿAbd al-Wahhâb b. ʿAlî b. ʿAbd al-Kâfî: Tabaqât aš-Šâfiʿiyya al-kubrâ. Hg. ʿAbd al-Fattâh Muhammad al-Hulw u. Mahmûd Muhammad at-Tanâhî. 2. Aufl. 1412 h/1992.
Amirsoleimani, Soheila: „Women in Tarîhkh-i Bayhaqî“. In: Der Islam 78 (2001) 229-248.
Bildnachweis
Beitragsbild: Hooghalen Bevroren Tranen
(Quelle: Wikimedia Commons)
Urheber: Mejala
Lizenz: Creative Commons 3.0
unverändert übernommen
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