Vor einiger Zeit meinte einer meiner Blogleser in einem Kommentar, die kulturellen Leistungen im “islamischen Kulturkreis” lägen wohl allesamt in einer weit zurückliegenden Vergangenheit. Ein Grund dafür sei vermutlich der Islam.
In den letzten Wochen habe ich immer mal wieder darüber nachgedacht. Das bedeutet wohl, daß ich mich mit dieser Auffassung etwas mehr auseinandersetzen möchte. Deshalb habe ich beschlossen, mich diesem Thema in einem Blogbeitrag zu widmen.
Spontan fiel mir dazu als erstes ein, daß wohl alle größeren kulturellen Leistungen auf der Welt in der Vergangenheit liegen. Manch einer mag das bestreiten, aber tatsächlich läßt sich die Bedeutung kultureller Leistungen erst im Rückblick einschätzen. Wir können schlicht nicht wissen, ob das, was wir aktuell für die größten und wichtigsten kulturellen Beiträge zur Menschheitsgeschichte halten, in 200 oder 500 oder 1000 Jahren immer noch so beurteilt wird.
Selbstverständlich schmälert das nicht die Bedeutung, die eine aktuelle kulturelle Leistung heute für unsere Gesellschaft hat. Nur sagt unsere Einschätzung nichts darüber aus, was kommende Generationen denken werden. Oder was Menschen aus anderen Kulturen denken.
Denn “kulturelle Leistungen” sind gewissermaßen per se kultur- und damit auch zeitgebunden. Was wir heute als “kulturelle Leistung” betrachten, mag in der Entstehungszeit als Unsinn, Spielerei oder gar unzulässiger Verstoß gegen kulturelle Regeln gegolten haben. Was uns in Europa als bewundernswert gilt, kann in anderen Ländern als gewöhnlich oder sogar anstößig empfunden werden.
Natürlich besteht durch die weitgehende Globalisierung westlicher Vorstellungen heute wahrscheinlich ein höheres Maß an Konsens als in früheren Zeiten. Manchmal täuscht das allerdings auch und sieht nur flüchtig von außen betrachtet so aus. Doch selbst wenn wir alle von derselben Definition von “kulturellen Leistungen” ausgehen, wissen wir immer noch nicht, ob unsere Nachfahren unsere Einschätzung teilen werden.
Womöglich hat sich unsere Kultur in 200, 500 oder 1000 Jahren so verändert, daß unsere Nachfahren ganz andere Vorstellungen von “Kultur” und von “Leistung” haben als wir heute.
Dann könnte es sein, daß besondere “kulturelle Leistungen” unserer Generation bis dahin völlig in Vergessenheit geraten. Oder Werke und Gedanken, die wir heute gar nicht als besondere “kulturelle Leistungen” erkennen, haben die Menschen über Jahrhunderte so nachhaltig beeinflußt, daß sie als besonders wertvoll betrachtet werden.
Immerhin sind solche Dinge in der Vergangenheit schon vorgekommen. Nicht jeder Dichter oder Maler, der zu seiner Zeit beachtet wurde, hat die Nachwelt so beeindruckt, daß wir seinen Namen heute noch kennen. Umgekehrt sind kaum beachtete Werke früherer Zeiten erst Jahrhunderte später zu Anerkennung gekommen. Für wissenschaftliche Erkenntnisse gilt das vielleicht sogar noch mehr als für künstlerische Leistungen.
Mir scheint also, die Nachwirkung über längere Zeiträume hinweg ist eine bewährte und mehrheitsfähige Methode, besondere “kulturelle Leistungen” aus der Vielfalt an Ausflüssen menschlicher Kreativität herauszusieben.
Nur das, was Menschen unabhängig von der aktuellen Situation nachhaltig beeinflußt oder berührt, wird auch bewahrt. Ist dies geschehen, so bildet sich leicht ein breiter Konsens bei der Einschätzung als “kulturelle Leistung”. Ein solcher Konsens ist also in aller Regel rückwärtsgewandt. Alle breit anerkannten “kulturellen Leistungen” liegen daher in der Vergangenheit.
In gewisser Weise ist das natürlich auch eine recht willkürliche Methode der Feststellung besonderer “kultureller Leistungen”. Schließlich geht sie im Endeffekt über das hinweg, was eine konkrete Leistung für ihre Entstehungszeit bedeutet haben mag. Trotzdem hat sie ihre Berechtigung, finde ich.
Lesen Sie demnächst einen Beitrag über aktuelle kulturelle Leistungen im “islamischen Kulturkreis” am Beispiel Iran.
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