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Mit Alp Arslâns Thronbesteigung und der Hinrichtung von Toghrils Wesir Kondorî in den Jahren 1063 und 1064 war der Nezâm zum zweitmächtigsten Mann eines großen Reiches aufgestiegen, das vom heutigen Amû Daryâ bis in den Irak und nach Syrien hinein reichte. Ein solches Reich hielt nicht von selbst zusammen. Und als Wesir des Sultans stand der Nezâm an der Spitze der gesamten Reichsverwaltung und hatte auch das Sagen bei Personalentscheidungen und über die Finanzen. Schon in den ersten Jahren zeigte er dabei viel Geschick.
So löste er das doppelte Problem des durch die Eroberungen teilweise verwüsteten Ackerlandes und der Besoldung von Militärführern und hohen Verwaltungsangestellten durch die Vergabe von Land, aus dem sie ihre Einnahmen schöpfen sollten. Man nannte das iqtâ‘, und es wird oft mit „Lehen“ übersetzt, weil das Land nicht Eigentum der „Belehnten“ wurde. Es war also gewissermaßen eine „Leihgabe“. Doch solche „Lehen“ waren nicht erblich und konnten jederzeit wieder eingezogen werden. Ursprünglich bestanden sie auch nur im Anspruch auf einen Teil der Steuereinnahmen, doch zur Zeit des Nezâm waren die Befugnisse der „Belehnten“ bereits ausgeweitet worden. Das iqtâ‘-System war also keine Erfindung des Nezâm, aber er weitete es im Seldschukenreich aus, und es entstanden verschiedene Typen von iqtâ‘. Für die Landwirtschaft war diese Lösung jedenfalls günstig, da die „Belehnten“ ein lebhaftes Interesse daran entwickelten, daß „ihr“ Land fleißig bebaut wurde. Wo nämlich der Ackerbau nicht blühte, da flossen auch keine Steuereinnahmen. Später sollte sich aus dem iqtâ‘-System eine Schwächung der Zentralgewalt ergeben, die zur Zeit des Nezâm aber noch nicht um sich griff.
Schon in Alp Arslâns Herrschaftszeit fällt auch des Nezâm Gründung einer Hochschule für Religionsgelehrte (madrasa) in Bagdad mit angesehenen Gelehrten als Lehrer und Stipendien für die Studenten. Benannt nach ihrem Gründer, wurde sie als „Nizâmiyya„-Madrasa bekannt. Wer hier ausgebildet wurde, konnte eine Laufbahn in der Reichsverwaltung einschlagen. So wurden einerseits verläßliche, gut sunnitische Verwaltungsangestellte herangezogen, andererseits bildeten sich engere Verbindungen zwischen Religionsgelehrten und „Sekretären“, und auch der Einfluß auf die Bevölkerung stieg, denn Religionsgelehrte hatten hohes Ansehen und oft viel Einfluß auf breitere Schichten der Bevölkerung. In den folgenden Jahren gründete der Nezâm auch in anderen Städten weitere Nizâmiyya-Madrasen, und sie bestanden noch lange nach seinem Tode fort und blieben renommierte Ausbildungsstätten. Auf den religionspolitischen Hintergrund der Nizamiyya-Gründungen kommen wir in einer der nächsten Folgen zu sprechen.
Der Nezâm war als Wesir Alp Arslâns also auf einem ersten Höhepunkt seiner Macht angekommen, hatte umfassende Befugnisse und entfaltete zahlreiche Aktivitäten. Trotzdem habe ich am Ende der letzten Folge die Auffassung vertreten, er wäre nicht in der Lage gewesen, Alp Arslân von der Hinrichtung Kondorîs zu überzeugen, wenn der Sultan selbst dafür keinen Grund gesehen hätte. Alp Arslân ließ sich von seinem Wesir nämlich nichts aufzwingen und behielt die Zügel der Herrschaft durchaus selbst in der Hand. Da konnte der Nezâm so fähig sein, wie er wollte, und auch sein höheres Alter – er war 1064 schon Mitte vierzig, Alp Arslân gut zehn Jahre jünger – nützte ihm nichts. Zwei der Belege dafür, daß der Sultan durchaus in der Lage war, seinen Wesir im Zaum zu halten, finden sich im „Buch der Staatskunst“ in den eigenen Worten des Nezâm.
So gelang es ihm beispielsweise nie, Alp Arslân von den Vorzügen eines Nachrichtendienstes – also eines Spionagesystems – zu überzeugen. Nachdem er in seinem Buch ausführlich dargelegt hat, weshalb und wozu ein Nachrichtendienst unbedingt notwendig sei und wie man diesen einrichten müsse, schließt er das Kapitel mit folgendem Abschnitt (Übersetzung nach Schabinger, S. 259f):
Eines Tages fragte Abû’l-Fasl Sakzî den für den Glauben gestorbenen Sultan Alp Arslân: „Warum hast du keinen Leiter des Nachrichtendienstes?“ – „Willst du mein Reich dem Winde preisgeben und meine Freunde von mir scheuchen?“ war seine Antwort. – „Wieso?“ – „Nun, wenn ich einen solchen einsetze, wird jeder, der mir lieb und freund ist, im Hinblick auf mein Vertrauen zu ihm und auf die Liebe und Freundschaft, die er bei mir genießt, dem Nachrichtenmeister kein Gewicht beilegen und ihn nicht bestechen. Dagegen wird jeder, der mir Widersacher und feind ist, mit ihm Freundschaft schließen und ihn beschenken. Unter diesen Umständen ist gar nichts anderes zu erwarten, als daß der Leiter des Nachrichtendienstes allezeit Schlechtes über die Freunde und Gutes über die Feinde berichten wird. (…) Nach kurzer Zeit wird uns der Freund ferner, der Feind jedoch näher stehen, so daß der Feind den Platz des Freundes einnehmen wird. Daraus entstehen dann Mißstände, die nicht zu fassen sind.“
Aber es ist doch besser, wenn ein Leiter des Nachrichtendienstes vorhanden ist. (…)
Dieser Abschnitt zeigt im übrigen nicht nur, daß Alp Arslân den Nezâm daran hinderte, einen Nachrichtendienst einzurichten, sondern daß der Nezâm auch Alp Arslâns Sohn Malek-Schâh bis in die zweite Hälfte von dessen Herrschaftszeit hinein nicht davon überzeugen konnte – das ist nämlich die Entstehungszeit des Buches. Die immer wieder ausgesprochene Behauptung, der Nezâm sei der „eigentliche Herrscher“ des Seldschukenreiches gewesen (so auch in der Wikipedia zu lesen) scheint daher doch ein bißchen hoch gegriffen – zumindest für die Herrschaftszeit Alp Arslâns.
Diesen Sultan respektierte der Nezâm aber nicht nur, sondern er fürchtete ihn regelrecht. In seinen eigenen Worten (erneut nach Schabinger, S. 301):
In der ganzen Welt gibt es nur zwei Glaubenslehrrichtungen, die gut sind: die des Abû Hanîfa und die des Schâfi’î. Der hochselige Sultan – Gottes Erbarmen über ihn! – war in seiner Lehrrichtung dermaßen fest und geradeheraus, daß mehrmals der Ausspruch über seine Zunge kam: „Wie schade! Wenn mein Kanzler (d.h.: mein Wesir, SK) nicht der schâfi’itischen Glaubenslehrrichtung angehörte, dann wäre Zucht und Ansehen mit ihm.“ Weil nun der Sultan so überaus glaubenseifrig war und die schâfi’itische Glaubenslehrrichtung verabscheute, war ich vor ihm immer in Sorge und beugte den Nacken nur mit Zittern.
Zur Erläuterung: Im sunnitischen Islam gibt es vier Rechtsschulen (madhâhib, Sg.: madhhab, manche sagen auch: Rechtsriten), die Schabinger hier als „Glaubenslehrrichtungen“ bezeichnet: die Hanafiten (benannt nach Abû Hanîfa), die Schâfi’iten (benannt nach Schâfi’î), die Hanbaliten und die Mâlikiten. Die Unterschiede zwischen den Ansichten ihrer Anhänger beziehen sich in erster Linie auf die Frage, auf Grundlage welcher Rechtsquellen und mit welchen Methoden man in religionsrechtlichen Fragen zu Lösungen kommen darf. Daraus ergeben sich dann im Detail auch unterschiedliche Regelungen. In vielen Fällen geht es dabei nicht um allzu große Abweichungen, aber da die Anhänger jeder Rechtsschule traditionell auch häufig einer bestimmten theologischen Schule anhingen, konnte es durchaus zu größeren Meinungsverschiedenheiten kommen. Die Seldschuken und ein Großteil der Türken waren (und sind bis heute) Hanafiten, während der Nezâm eben Schâfi’it war. Da Alp Arslân nun schon mit Blick auf die Unterschiede innerhalb des sunnitischen Spektrums nicht sehr tolerant war und die Seldschuken die Rechtmäßigkeit ihrer Herrschaft maßgeblich auf ihre Verteidigung des sunnitischen Islams gründeten, bekam der Nezâm es richtig mit der Angst zu tun, als er von einem fatalen Gerücht hörte, das über ihn im Umlauf war:
Der Gesandte des Khans (also des Herrschers) von Samarqand war zu Alp Arslân gekommen und suchte auch den Nezâm auf, um die Dinge mit ihm zu besprechen, die er nicht direkt mit dem Sultan diskutieren konnte. Der Nezâm hatte eben einen Ring im Schachspiel gewonnen und ihn auf die rechte Hand gesteckt, weil er auf die Linke nicht paßte. Während er mit dem Gesandten sprach, spielte er an dem Ring herum und drehte ihn um den Finger. Als der Gesandte zum Khan zurückkehrte, schickte der Sultan einen eigenen Gesandten mit, um weitere Angelegenheiten zu besprechen. Auch der Nezâm sandte einen eigenen Mann mit dem Gefolge, der ihn über alles auf dem laufenden halten sollte. Nach einiger Zeit bekam er von diesem Informanten ein Schreiben, das den Bericht des fremden Gesandten vor dessen Herrscher schilderte.
Der Gesandte hatte berichtet, daß Sultan Alp Arslân, sein Heer, sein Hof, seine Verwaltung und sein ganzes Reich tadellos seien bis auf eines: Sein Wesir sei ein „Zurückweiser“ (râfezî). Nach dem Grund für diese Annahme gefragt, hatte der Gesandte erklärt, der Nezâm habe einen Ring an der rechten Hand getragen und ihn gedreht. „Zurückweiser“ ist die Fremdbezeichnung für jemanden, der die religiöse Richtung des Sprechers ablehnt. Sie wurde (und wird) von den Sunniten oft für Schiiten verwendet. Der Gesandte hatte den Nezâm also einen Schiiten genannt.
Über diese Nachricht war der Nezâm sehr erschrocken. Den Rest der Geschichte möchte ich in seinen eigenen Worten wiedergeben (Übersetzung von mir nach S. 131 des Siyâsat-nâme):
Der Diener (= ich) wurde sehr besorgt aus Furcht vor dem Sultan. Ich sagte (mir): „Er verachtet (schon) die Rechtsschule des Schâfi’î und wirft sie mir ständig vor. Wenn er auf irgendeine Weise davon hört, daß die Dschekeliyân (= die Leute aus Turkestan) den Diener (= mich) als „Zurückweiser“ (= Schiiten) abgestempelt haben und sich solches vor dem Khan von Samarqand zugetragen hat, wird er mein Leben nicht schonen.“ Trotz aller Schuldlosigkeit gab der Diener (= ich) dreitausend Dînâr ohne Bitte und Aufforderung aus und verteilte einige Pachten und Pensionen, damit diese Worte nicht ans Ohr des Sultans gelangten.
Solche Schilderungen lassen nicht eben den Eindruck entstehen, daß der Nezâm den Sultan in der Hand hatte, im Gegenteil. Wie der Nezâm die Tatsache, daß er dem Sultan untergeordnet war, auch schon mal am eigenen Leib zu spüren bekam und wie sich Alp Arslâns Abneigung gegen Manipulationen auch einmal zum Vorteil des Nezâm auswirkte, lesen Sie in der nächsten Folge.
Quellen
Susanne Kurz: „Der Hof des Nizâm al-Mulk“. Unveröffentlichte Magisterarbeit, Universität Tübingen, 2001.
Karl Emil Schabinger Freiherr von Schowingen: Das Buch der Staatskunst: Siyâsatnâma. Aus dem Persischen übersetzt und eingeleitet von Karl Emil Schabinger Freiherr von Schowingen. Zürich 1987.
Nezâm ol-Molk, Abû ‚Alî al-Hasan b. ‚Alî b. Eshâq-e Tûsî: Siyar ol-Molûk (Siyâsat-nâme). Hg. Hubert Darke. 2. Aufl. Tehrân 1364 š./1985.
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