Anscheinend wirkt die Arbeit von historisch arbeitenden Islamwissenschaftlern von außen betrachtet so, als wäre sie das: Bücherlesen als Beruf. Zum ersten Mal habe ich das vor ein paar Jahren von einer Kollegin gehört. Man hatte sie wohl darum beneidet, daß sie hauptberuflich Bücher lesen dürfe. Unsere spontane Reaktion darauf war ein amüsiertes Prusten und das Bedürfnis, ein Mißverständnis klarzustellen.
Wo aber liegt hier eigentlich das Mißverständnis? Haben Islamwissenschaftler, wenn sie mit historischen Texten arbeiten, nicht täglich mit Büchern zu tun? Und müssen sie nicht andauernd lesen? Warum sonst sind so viele von ihnen kurzsichtig? Ist also die Wahrnehmung, wir seien beneidenswerte hauptberufliche Bücherleser nicht eigentlich völlig korrekt?
Den Anschein hat es jedenfalls. Trotzdem fühlt es sich aus der Innenperspektive nicht so an. Und warum ist das so? Ich denke, das ist ein Thema für einen kurzen Blogbeitrag.
Als erstes könnte man natürlich einwenden, daß es auch historisch arbeitende Islamwissenschaftler gibt, die sich primär mit Münzen oder Gebäuden beschäftigen und nicht in erster Linie mit Texten. Aber ich selbst arbeite tatsächlich mit Texten, und die erwähnte Kollegin tat das auch. Bleiben wir also bei den „Textwissenschaftlern“ unter uns.
Zunächst einmal scheint demjenigen, der Bücherlesen als unseren Beruf identifiziert hatte und dem dies beneidenswert erschien, folgendes entgangen zu sein: Es gibt einen Unterschied zwischen Lesen zum Spaß und Lesen aus Notwendigkeit. Wenn ich etwas lese, weil es mich interessiert und ich es gerade lesen will, dann macht mir das natürlich Freude – gesetzt den Fall, ich gehöre zu den Menschen, die überhaupt gern lesen. Ob es sich dabei um Unterhaltungsliteratur, Sach- oder Fachbücher handelt ist nebensächlich. Die Hauptsache ist, daß ich dieses Buch jetzt gerade lesen möchte. Wenn ich nun viele Stunden am Tag einem Beruf nachgehe, der mich davon abhält, das Buch meiner Wahl weiterzulesen, dann empfinde ich das selbstverständlich als lästig, als Einschränkung meiner Lebenqualität. Da kann man schon mal auf den Gedanken kommen, daß Menschen, die den ganzen Tag von berufs wegen interessante Bücher lesen, zu beneiden sind.
Nur erleben diese Menschen oft genau dasselbe: Sie MÜSSEN aus beruflichen Gründen die einen Bücher lesen, während sie aus privatem Interesse vielleicht gerade ganz andere Bücher lesen MÖCHTEN. In diesem Fall hält dann eben die berufliche Lektüre von der privaten ab, und man hat dasselbe Problem wie jeder andere Bücherfreund auch. Man darf also selbst gewählte Freizeitlektüre nicht mit beruflich notwendiger Lektüre verwechseln. Der Lustgewinn bei der letztgenannten kann erheblich geringer sein, als es sich jemand vorstellen kann, dessen Beruf kein Element „Bücherlesen“ enthält.
Doch das ist gar nicht das wesentliche Mißverständnis. Denn, ganz ehrlich: Wir finden den größeren Teil der Bücher und Aufsätze, die wir aus beruflichen Gründen lesen müssen, auch persönlich interessant. Das ist in der Tat der eine große Vorteil wissenschaftlicher Arbeit: daß man sich beruflich mit Inhalten beschäftigen kann, mit denen man sich anderenfalls auch aus freien Stücken privat befassen würde.
Der viel wichtigere Grund dafür, daß wir den Neid auf uns „Berufsleser“ nicht so recht nachvollziehen konnten, war ein anderer:
Wer an einem Universitätsinstitut arbeitet und womöglich die Funktion des Assistenten ausfüllen muß (und das ist schon eine der komfortableren Situationen, weil man immerhin ein ausreichendes Gehalt bezieht), hat kaum noch Zeit, einmal in Ruhe ein Buch von vorne bis hinten durchzulesen. In erster Linie muß ein Assistent nämlich Verwaltung, Unterricht, Prüfungen und Studentenbetreuung erledigen. Danach bleibt vielleicht noch ein bißchen Zeit für Forschungsarbeit – je nach Institut ist das unterschiedlich -, und da man nach längstens 6 Jahren das zweite Buch geschrieben haben muß, hat man sich auf das unbedingt Notwendige zu beschränken. Mit anderen Worten: Man hetzt durch die Literatur, versucht schon vorab einzuschätzen, welche Abschnitte und Kapitel Wichtiges enthalten, und liest diese dann im größtmöglichen Tempo durch. Für gemütliches Lesen bleibt da wenig Zeit, es sei denn, man hat weder Partner noch Familie oder Freunde. Ohne Sozialleben kann man natürlich auch am Abend und am Wochenende arbeiten. Aber auf Dauer ist das nicht einmal in der Wissenschaft gesund. Zudem wird der Assistent, sofern er versucht, IM Institut zu lesen, auch regelmäßig unterbrochen. Soll heißen: Wer als Assistent an einem Institut arbeitet, wünscht sich vielleicht, Bücherlesen wäre sein Beruf. Mit der Wirklichkeit hat das aber oft nicht allzu viel zu tun.
Und wie ist das in Forschungsprojekten, in denen sich Verwaltung, Unterricht, Prüfungen und Studentenbetreuung in viel engeren Grenzen halten (ganz darauf verzichten kann man schon aus Qualifikationsgründen nicht)? Nach meiner persönlichen Erfahrung ist es selbst auf einer reinen Forschungsstelle nicht so einfach, einmal ein komplettes Buch durchzulesen oder einer interessanten Spur in der Literatur nachzugehen, wenn nicht sicher ist, daß dies unbedingt erforderlich oder zumindest nützlich ist. Ausführliche Lektüre läßt sich am ehesten noch zu Beginn eines Projektes durchführen, wenn man sich genauer orientiert und den Forschungsstand aufarbeitet. Bald genug gerät man aber auch in einen Zustand ständiger Hast, weil man Deadlines einhalten muß. Immerzu muß irgend etwas fertig werden: ein Vortrag, ein Aufsatz oder gegen Ende der Vertragslaufzeit die nächste Qualifikationsarbeit, das aktuelle Buch. Daneben muß noch dieser oder jener Antrag fertig gestellt werden, weil man ihn zur Existenzsicherung rechtzeitig einreichen muß. Da stellt sich auch das Gefühl ein: Jetzt kann ich das nicht in Ruhe durchlesen, vielleicht später, wenn die Deadline vorbei ist. Bis dahin begnügt man sich damit zu lesen, was unverzichtbar ist. Es gibt dabei nur ein Problem: nach der aktuellen Deadline folgt meist die nächste.
Ich will nicht behaupten, daß es jedem so geht. Das ist sicher individuell unterschiedlich und hängt auch davon ab, ob man überhaupt das Bedürfnis hat, in aller Ruhe komplette Bücher zu lesen. Und davon, ob man das für sinnvoll hält. Ich würde jedenfalls gern mehr Literatur lesen, und das mit mehr Ruhe. Mir erscheint das auch sinnvoll, denn schließlich soll man nicht nur Lesen, sondern auch kritisch über das Gelesene nachdenken und sich eine Meinung darüber bilden.
Doch vielleicht ist es gerade bei Menschen in der „Luxusposition“ einer Mitarbeiterstelle in einem Forschungsprojekt gar nicht so sehr die Zeit, die zum ausführlichen Lesen fehlt, sondern die innere Ruhe. Die kann sich schon mal verflüchtigen, wenn man zu lange oder zu oft von einer Deadline zur nächsten springt. Kann also sein, daß es sich um ein Problem handelt, das nicht jeder hat oder sieht. Für die Assistentenstellen mag sich das auch je nach Institut ganz unterschiedlich gestalten. Meine Kollegin und ich jedenfalls waren nicht in derselben Position, aber in diesem Punkt derselben Meinung: Unser Beruf besteht nicht aus Bücherlesen, aber es wäre schön, wenn das Bücherlesen darin mehr Raum einnehmen könnte.
Eine letzte Bemerkung zum Bücherlesen: All das gilt natürlich für das Lesen von Forschungsliteratur. Selbst wenn man sich hauptberuflich oder sogar ausschließlich mit Forschung befaßt, ist das aber nur ein Teil der wissenschaftlichen Arbeit. Denn forschen bedeutet, neue Erkenntnisse zu gewinnen. Und das tun wir als historisch arbeitende Islamwissenschaftler zwar durchaus lesend, aber wir lesen in erster Linie solche Texte, die wir als Quellen für neue Erkenntnisse verwenden können. Das sind arabische, persische oder türkische Texte, manchmal auch solche in Urdu und anderen Sprachen – oft in mehreren von ihnen. Häufig gibt es diese Texte nur als Handschriften, die auch noch schwer zu entziffern sind. Da ist schon das Lesen und Verstehen nicht immer eine entspannte Angelegenheit. Außerdem lesen wir solche Texte nicht nur, sondern wir analysieren, vergleichen und interpretieren sie, versuchen unsere Beobachtungen zu neuen Erkenntnissen zusammenzufügen und schreiben diese dann auf – als Vortrag oder Aufsatz oder am Ende der Vertragslaufzeit als Buch. All das macht natürlich viel Freude. Wenn es nicht so wäre, gäbe es kaum Gründe, ausgerechnet als Wissenschaftler zu arbeiten.
Man darf uns also ruhig darum beneiden, daß wir einer interessanten und produktiven Tätigkeit nachgehen, denn das ist wahr. Nur ist „Bücherlesen als Beruf“ keine besonders treffende Zusammenfassung dieser Tätigkeit.
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