Gewaltherrscher mit Gewissen und Humor? Anekdoten über Hadschdschâdsch ibn Yûsuf

Heute möchte ich die ersten Witze auf dem Blog vorstellen. In meiner Doktorarbeit habe ich drei Sammlungen von überwiegend persischen Witzen und humoristischen Anekdoten untersucht. Das hatte seinen Grund: Sammlungen werden in der Regel bewußt zusammengestellt, es stehen also eine Absicht (oder mehrere Absichten) und eine Vorstellung des Sammlers über den Geschmack seiner Leser oder Zuhörer hinter der Zusammenstellung. („Zuhörer“ deshalb, weil Witze ja oft mündlich weitererzählt oder vorgelesen werden.) Aus einer solchen Zusammenstellung kann man deshalb einige Schlüsse ziehen – sowohl über den Sammler und seine Zeit als auch über die Leser oder Zuhörer, an die er dabei gedacht hat. Und selbst das ist nicht ganz einfach (mehr dazu findet man in meiner Doktorarbeit).

Aus einem einzelnen Witz lassen sich solche Schlüsse nur dann ziehen, wenn man sehr viel über seine Entstehungszeit und die Umgebung weiß, in der er weitererzählt wird. Beides ist bei Witzen aus der ferneren Vergangenheit kaum oder gar nicht gegeben. Und weil ich hier ziemlich alte Witze und Anekdoten zum besten gebe, gilt das auch für sie. Trotzdem werde ich manchmal nur ein oder zwei Witze vorstellen. Das liegt am kurzen Format von Blogbeiträgen und auch daran, daß ich nicht immer die Zeit habe, lange Texte zu schreiben. Meine Interpretationen werden sich dann aber entweder auf das beschränken, was man dem einzelnen Witz wirklich entnehmen kann, oder ich habe eine ganze Anzahl ähnlicher Witze und Anekdoten analysiert und benutze die ein oder zwei Witze im Beitrag nur als Aufhänger und Beispiele.

Legen wir also los!

Dieser erste Eintrag soll Ihnen kein feststehendes Wissen vermitteln oder meine eigenen Schlußfolgerungen darbieten, sondern ein Problem aufzeigen, das mir beim Lesen begegnet ist. Leider hatte ich bis heute noch keine Zeit, eine überzeugende Lösung zu suchen.

Heute möchte ich Ihnen daher eine bestimmte Art von Anekdoten über den umayyadischen Statthalter des Irak al-Hadschdschâdsch ibn Yûsuf vorstellen. Die Umayyaden waren die erste „Dynastie“ von Kalifen in der Geschichte der Muslime und beherrschten das Reich von ihrer Hauptstadt Damaskus aus in den Jahren 661 bis 750. Hadschdschâdsch lebte von 661 bis 714 und wurde 694 zum Statthalter des Irak ernannt. Ein verbreitetes Klischee über ihn ist das des brutalen und ungerechten Herrschers.

Interessanterweise gibt es aber eine Reihe von Anekdoten über ihn, die mit den direkten Aussagen in der Anekdote genau dieses Klischee verbreiten, es aber gleichzeitig durch die Darstellung von Hadschdschâdschs tatsächlichem Verhalten unterlaufen. Vielleicht kann man sich dieses seltsame Muster erklären, wenn man sich näher mit Hadschdschâdsch und den Überlieferungen über ihn beschäftigt. Da ich das bisher nicht getan habe, kann ich es jedenfalls nicht. Deshalb möchte ich Sie an einer dieser Anekdoten teilhaben lassen. Sie können sie als Kuriosität genießen oder mich an Ihrem Wissen teilhaben lassen, falls Sie verstehen, was es mit dieser Art Anekdoten auf sich hat.

Die folgende Anekdote stammt aus der Sammlung Latâ’ef ot-tavâ’ef („Anekdoten der Gruppen“), die Fachr od-Dîn ‘Alî-ye Safî in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts zusammengestellt hat. Viele der Texte in der Sammlung findet man aber schon in der älteren Literatur, zum guten Teil auf arabisch. Safî lebte von 1463 bis 1532 und hielt sich einen großen Teil seines Lebens in Herât im heutigen Afghanistan auf. Damals gab es dort einen glanzvollen Hof, an dem die Künste und Wissenschaften blühten. Safîs Vater Hoseyn Vâ’ez-e Kâschefî ist unter Fachleuten aber viel bekannter, weil er ganz unterschiedliche Schriften verfaßt hat – gelehrte ebenso wie literarische. Safîs Sammlung enthält stolze 845 Texte. Die meisten davon sind humoristisch, aber nicht alle. Safî selbst folgte seinem Vater in Herât als Freitagsprediger nach.

Eine Gruppe Leute hatte sich gegen Hadschdschâdsch erhoben. Aus dieser Gruppe ergriff man eine Frau und brachte sie vor Hadschdschâdsch. Er begann, sie anzureden und zu tadeln, und sie hielt den Kopf gesenkt und den Blick auf den Boden geheftet und gab ihm keine Antwort und würdigte ihn keines Blickes. Einer der Anwesenden sagte: „Der Amîr redet mit dir, und du hast dich gegen ihn aufgelehnt!“ Sie entgegnete: „Ich schäme mich vor Gott, jemanden anzuschauen, den Gott nicht (gnädig) anschaut.“ Hadschdschâdsch fragte: „Woher weißt du (denn), daß Gott mich nicht (gnädig) anschaut?“ Antwort: „Wenn er dich (gnädig) anschauen würde, dann würde er dir nicht solche Tyrannei durchgehen lassen.“ Hadschdschâdsch sagte: „Sie spricht die Wahrheit.“ Dann ließ er ihr tausend Dirhem geben und schickte sie zu ihrem Stamm zurück. (S. 135)

Wie man sieht, steht das, was die Frau über Hadschdschâdsch sagt, in krassem Gegensatz zu der Art und Weise, wie er sich tatsächlich verhält. Die Frau beschuldigt ihn der Tyrannei und ist der Meinung, Gott habe sich von ihm abgewendet. Doch Hadschdschâdsch läßt sie dafür nicht etwa töten oder auch nur bestrafen, wie man es von einem Tyrannen erwarten würde. Er müßte dafür noch nicht einmal ein Tyrann sein, denn die Frau hat sich ganz offensichtlich gegen die Herrschaft aufgelehnt, und das würde auch ein gerechter Herrscher bestrafen.

Stattdessen zeigt er sich von ihren Aussagen beeindruckt und ist einsichtig. Er stimmt der Frau sogar zu und belohnt sie für ihre harsche Kritik. Das ist aber genau das, was normalerweise die gottesfürchtigen und gerechten Herrscher in den Anekdoten tun – oder doch solche, die zumindest ein Bewußtsein für ihre eigenen Fehler haben. Von einem Tyrannen erwartet man das nicht.

Was also will uns die Anekdote sagen? Daß der schlechte Ruf des Hadschdschâdsch eigentlich unbegründet ist? Aber in der Anekdote bestätigt er ja obendrein selbst, daß die Frau mit ihrer Einschätzung recht hat. Oder spielt es vielleicht eine Rolle, daß Hadschdschâdsch hier einer Frau gegenübersteht? Würde er einen Mann anders behandeln? Andererseits gibt es auch mehrere Anekdoten, in denen er auf die Kritik von Männern ganz ähnlich reagiert – oder sogar mit Humor. Zum Beispiel in dieser Anekdote aus derselben Sammlung:

Einmal ritt Hadschdschâdsch ibn Yûsuf mit einer Anzahl seiner Vertrauten durch eine Ebene und sah in der Ferne einen Hütesklaven, wie er Schafe weiden ließ. Er sagte zu seinen Begleitern: “Bleibt hier, bis ich mit diesem Hirten gesprochen habe!” Dann spornte er sein Pferd an und ritt zu ihm (nämlich dem Hirten) hin und grüßte ihn. Der Sklave erwiderte den Gruß. Hadschdschâdsch fragte ihn: “Was für eine Art Herrscher ist Hadschdschâdsch ibn Yûsuf über euch?” Antwort: “Der Fluch Gottes komme über ihn! Nie ist ein größerer Tyrann als er auf dem Stuhl der Herrschaft gesessen. Er ist ein erbarmungsloser, blutdürstiger, rücksichtsloser Mensch ohne Gottesfurcht. Ich hoffe, daß die Erdoberfläche bald vom Schmutz seiner Tyrannei gereinigt wird!” Hadschdschâdsch fragte: “Kennst du mich?” Antwort: “Nein.” Hadschdschâdsch: “Ich selbst bin Hadschdschâdsch.” Der Sklave bekam Angst, und seine (Gesichts-)Farbe änderte sich (d.h.: er wurde bleich). Hadschdschâdsch fragte: “Wessen Sklave bist du und wie heißt du?” Der Sklave antwortete: “Mein Name ist Wardân, und ich bin ein Sklave der Âl Abî Thaur, und jeden Monat bekomme ich dreimal die Fallsucht und werde verrückt. Heute ist einer meiner Tage der Fallsucht und Verrücktheit.” Hadschdschâdsch lachte, verlieh ihm ein Ehrengewand und ritt davon. (S. 394)

Allein in Safîs Sammlung gibt es zehn Anekdoten über Hadschdschâdsch – verteilt über verschiedene Kapitel –, in denen der berüchtigte Statthalter so oder ähnlich auf Furchtlosigkeit, Schlagfertigkeit, Bauernschläue oder geistreichen Witz reagiert. In keinem Fall verhält er sich wie der blutrünstige Tyrann, der er laut ausdrücklicher Äußerungen in denselben Anekdoten sein soll. Ich finde diese Anekdoten gerade deshalb so reizvoll und habe viel Vergnügen an ihnen. Aber ich weiß nicht recht, wie sich dieser Kunstgriff deuten läßt. Vielleicht haben Sie ja eine Idee?

Literatur

Kurz, Susanne: „Verachtet das Scherzen nicht!“: Die kulturhistorische Aussagekraft von persischen Sammlungen humoristischer Kurzprosa. 2 Halbbde. Dortmund: Verlag für Orientkunde, 2009. (Beiträge zur Kulturgeschichte des islamischen Orients, 40). Die Arbeit kann man hier bestellen.

Safî, Fachr od-Dîn ‘Alî b. Hoseyn Vâ’ez-e Kâschefî: Latâ’ef ot-tavâ’ef. Hrsg. v. Ahmad-e Goltschîn-e Ma’ânî. 4. Aufl. Tehrân: Eqbâl, 1362 sch./1983.


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