Mit seinen geschätzten über 20 Millionen Einwohnern ist Mumbai nicht nur die größte, sondern meiner Meinung nach auch eine der faszinierendsten Städte in Indien. Sie ist sowohl wirtschaftliches Zentrum wie auch kultureller Knotenpunkt. Die Filmindustrie “Bollywood” ist verantwortlich für die Träume von vielen Menschen in Indien, und darüber hinaus kommen unzählige Menschen auf der Suche nach einem besseren Leben in die Stadt geströmt.
Jeder Taxifahrer und fast jeder junge Mensch scheint aus einem anderen Teil des Landes gekommen zu sein. Insbesondere auch junge Frauen aus Nord- und Südindien kommen für besser bezahlte Jobs und Freiheiten, die sie in ihrer Heimat nicht genießen können, in die Stadt.
Eine Freundin von mir hatte sich in ihrer Heimatstadt Lucknow immer Klamotten gekauft, die sie dort nicht tragen konnte. Sie ist dann mit drei riesigen Koffern nach Mumbai gezogen und hatte jeden Tag ein – meist westliches – Outfit zur Auswahl.
Es gibt keinen Ort, wo die Vielfalt der Einwohnerschaft Mumbais so deutlich zu beobachten ist wie im Zug. Die Frauenabteilung der lokalen Stadt-Bahnen sind kleine Orte, die sich stets in Bewegung befinden und wo sich Arm und Reich, Hindu und Muslim, Jung und Alt treffen.
Während meiner Feldforschung über Unani Medizin in Indien besuchte ich mehrmals die Woche einen Hakim in seiner Praxis in Kurla West, einem Vorort von Mumbai und weit entfernt von meiner Wohnung. Entsprechend oft war ich mit dem Zug unterwegs und habe einiges in diesen Zügen erlebt.
Einmal fuhr ich spät abends mit dem Zug, und der Waggon war leer bis auf einen Polizisten. Er saß zwei Reihen weiter vorne mit seinem lathi (Schlagstock) in der Hand. Ich habe mich nicht sicher gefühlt in seiner Anwesenheit. Ganz im Gegenteil: Ich hatte Angst. Er schaute immer wieder hin zu mir und wieder weg, dann stand er auf und stellte sich an die immer offene Tür…
… wo sich alle Menschen hinstellen, um etwas von der frischen Meeresbrise zu bekommen. Wo man sich hinstellt, wenn man sicher sein möchte, rechtzeitig aus dem Zug zu kommen, bevor sich andere Menschenmassen hereinzudrängen versuchen.
Das weiß man alles nicht, wenn man das erste Mal in Mumbai mit dem Zug fährt.
Als ich zum ersten Mal in den Zug stieg, saßen ein paar andere Frauen schon drin. Einige trugen Saris, einige Burqas, andere hatten Jeans und Bluse an. Eine hörte mit Kopfhörern Musik auf ihrem Handy. Ich nahm am Fenster Platz und stellte mich auf eine angenehme Fahrt ein. Weitere Frauen stiegen zu: Eine Gruppe von Dorffrauen mit Kindern, eine Verkäuferin mit einem riesigem Korb auf dem Kopf. Noch mehr Frauen in Saris und schwarzen Burqas. Die meisten aber mit bunten Shalwar-Qamiz. Frauen, die in Büros oder Geschäften arbeiten, oder als Putzfrauen. Studentinnen, Hausfrauen. Der Zug war nach fünf Minuten bereits so voll, dass die ersten Streitereien um die Plätze begannen. Die Frauen saßen auf heillos überfüllten Bänken. Man rutschte ein wenig, und es ging. Aber dann kam die nächste, und es wurde wieder gerutscht, gedrückt, gekämpft, bis ich letztendlich fast an der Wand zerquetscht wurde. Die Bereiche an den Türen waren mittlerweile auch voll, aber da die Türen niemals schließen, stiegen immer noch mehr Passagiere ein. Es ist wahrlich erstaunlich, wie viele Menschen in so einen Zugwaggon hineinpassen. Bei den Männern soll es angeblich noch schlimmer sein.
Der Zug fuhr endlich los. Die leichte Brise, die durch die Fenster und Türen hereinwehte, war wunderbar frisch, aber auch stickig. Sie roch nach Schweiß, Rosenwasser, Parfüm und Jasminblumen, die meine Sitznachbarin trug. Wie viele Frauen waren im Waggon? Fünfzig? Hundert? Ich weiß es nicht.
Die Stationen wurden nicht angesagt, und ich fragte die Frau neben mir, ob sie mir rechtzeitig vor Kurla bescheid sagen könne. Zum Glück musste sie eine Station später aussteigen. Sie lächelte und versprach mir, Bescheid zu sagen.
Die Zeit verging, und ob man es glauben wollte oder nicht: An jeder Haltestelle stiegen noch mehr Frauen ein. Nur wenige verließen den Zug. Die Atmosphäre war erdrückend…
Nach einer Weile sagte die Frau zu mir, dass die nächste Haltestelle Kurla sei. Ich sollte schon aufstehen, und sie riet mir, mich schon auf den Weg zur Tür zu machen und dabei lautstark “Kurla! Kurla!” zu schreien, sonst würde man mich nicht durchlassen.
Ich schrie und schrie, aber es machte keinen Unterschied. Niemand ließ mich durch. Ich drückte und versuchte, mir mit meiner Schulter den Weg frei zu machen, und als der Zug zu bremsen begann, hatte ich es tatsächlich fast bis zur Tür geschafft. Aber noch bevor der Zug zum Stehen gekommen war, fingen bereits (noch mehr!) Frauen an einzusteigen! Ich schrie weiter “Kurla, Kurla!!!”, aber konnte den Zug letztendlich nur verlassen, weil eine Frau hinter mir mich unsanft in den Rücken stieß.
Hinter mir stieg dann eine junge, zierliche Frau aus. Wir schauten uns an und lächelten beide. “Sie sind nicht von hier, stimmt’s?” fragte sie. “Nein” meinte ich und weiter: “Machen Sie das jeden Tag?” Sie wackelte mit dem Kopf, ein Lächeln im Gesicht.
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Kira Schmidt Stiedenroth, MA, arbeitet als Ethnologin an der Ruhr-Universität Bochum in demselben DFG-Projekt wie die Blogbetreiberin.
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