Neulich habe ich ein kleines E-Book über Recherche gelesen. Es ging darum, wie Autoren recherchieren sollten, um gute Bücher zu schreiben – egal, ob Sachbücher oder Romane. Einer der Tips war: Wenn man über eine historische Persönlichkeit schreibt, dann soll man dorthin reisen, wo die Persönlichkeit gelebt hat. Man soll sich ihre Umgebung genau anschauen. Man soll die Bibliotheken bereisen, die ihre handschriftlichen Notizen aufbewahren. Man soll alles lesen, was die Person gelesen hat. Und man soll tun, was sie getan hat. Wenn es um einen Maler geht, dann soll man selbst malen. Geht es um einen Erfinder, dann soll man selbst Entwürfe machen. Kurz und gut: Man soll zu der Person werden, über die man schreiben will. Das ist natürlich nicht ganz so einfach, wenn man kein ausgewachsener Historiker ist, denn mit Quellen muß man ja auch umgehen können – mal ganz abgesehen von dem Problem, daß man nicht so ohne weiteres aus dem eigenen Ich heraustreten kann.
Doch warum erzähle ich das? – Weil ich finde, daß man so forschen müßte: Sich so tief wie möglich in die Verfasser der Texte hineindenken, die man als Quellen für Erkenntnisse verwendet. Herausfinden, was diese Verfasser gelesen haben und ob es heute noch greifbar ist. Das lesen und lernen, was sie gelesen und gewußt haben. Herausfinden, wie sie gelebt, gedacht und gefühlt haben. Erst dann kann man nämlich verstehen, was sie mit ihren Texten eigentlich sagen wollten und wie sie wahrscheinlich von ihren Lesern verstanden wurden. Und nur wenn man das versteht, weiß man wirklich, wie man den Texten brauchbare Antworten auf die eigenen Fragen entlocken kann. Nur wenn man weiß, was der Verfasser eines Textes gelesen und gewußt hat, kann man seine inhaltlichen Anspielungen und seine technischen Kniffe, seine Stilmittel, wirklich erkennen. Wenn man weiß, wie er gelebt und gedacht und gefühlt hat – oder wenn man wenigstens eine Ahnung davon hat -, dann kann man leichter die Unterschiede zwischen seinen und den eigenen Werten und Maßstäben und Überzeugungen erkennen. Mit anderen Worten: ohne tiefes Hineindenken in den Verfasser eines Quellentextes kann man den Text nicht richtig verstehen. Und wenn man den Text nicht richtig versteht, dann zieht man wahrscheinlich auch eine Menge falscher Schlüsse. Diese Gefahr besteht ganz besonders bei Texten aus entfernten Zeiten und Kulturen. Denn sie funktionieren meist ganz anders, als wir es heute erwarten würden.
Was nutzt es uns zum Beispiel, wenn wir Wirtschaftsdaten aus einem Geschichtswerk auswerten, solange noch gar nicht gründlich untersucht wurde, ob und inwieweit diese Daten belastbar sind? Was, wenn sie geschönt wurden, um das Reich zur Zeit eines bestimmten Herrschers besonders blühend erscheinen zu lassen? Nicht aus betrügerischer Absicht heraus übrigens, sondern um dem Leser eine tiefere Wahrheit nahezubringen, die der Verfasser vielleicht wichtiger fand als korrekte Zahlen. Vielleicht müßte man das Geschichtswerk einmal kritisch edieren und dann als Ganzes untersuchen, ehe man an die Auswertung von Daten geht? Das ist ein plumpes Beispiel, aber es verdeutlicht vielleicht, worauf ich hinaus will.
Nun ist ein Text zwar zweifellos mehr als eine Verlängerung des Verfassers oder der Leser. Deshalb ist es zum Beispiel auch wichtig, sich mit der Gattung auseinanderzusetzen, zu der ein Quellentext gehört. Wieder heißt es: lesen, viel lesen. Man muß die Eigenarten und Stilmittel anderer Texte derselben Gattung kennenlernen. Doch ohne den Verfasser zu verstehen und die Leser, ohne also das historische und kulturelle Umfeld des Textes genau zu kennen, wird es bei der Textauswertung zwangsläufig zu Mißverständnissen und Fehlern kommen.
Bei den Lesern gibt es außerdem zwei Gruppen: diejenigen, an die der Verfasser sich mit seinem Text bewußt wendet, und diejenigen, die den Text tatsächlich gelesen haben. Sie können, müssen aber nicht identisch sein. Und manchmal wurden Texte auch vorgelesen oder aus dem Gedächtnis vorgetragen oder weitererzählt. Gerade bei hauptsächlich fiktiver Erzählliteratur und Dichtung ist damit zu rechnen. Aber diese Literatur hat ohnehin ihre besonderen Eigenarten und Schwierigkeiten für die historische Auswertung, die ich hier nicht diskutieren will.
Ein Problem der Islamwissenschaft und verwandter Disziplinen ist, daß man noch sehr viel Quellenforschung betreiben muß. Zu viele Texte werden von zu wenigen Forschern bearbeitet. Deshalb wissen wir über viele Zeiten und Regionen und Texte noch sehr wenig. Man kann also meistens nicht auf vorhandene Forschungsliteratur zurückgreifen, sondern muß erst einmal die ganze Grundlagenforschung selbst betreiben. Und dazu braucht man jede Menge Zeit, weil man sehr breit und sehr viel lesen und lernen muß. Manches muß man vielleicht mehrfach lesen, denn dafür waren Texte viele Jahrhunderte lang gedacht: zum wiederholten, zum vertiefenden Lesen. Man hatte ja kein Überangebot an Büchern wie heute.
Für solche Grundlagenforschung zu den Texten, auf die wir wichtige Erkenntnisse stützen, braucht man also Zeit und Muße. Wenn wir uns die nicht nehmen, steht der Rest unserer Arbeit auf tönernen Füßen.