Vor einigen Jahren habe ich einen historischen Roman von Rebecca Gablé gelesen. Darin folgt der zehnjährige Richard II. seinem Großvater als König von England nach.
Sein Vater, der älteste Sohn des Königs, war nämlich vor diesem gestorben, und der König hatte den ältesten Sohn seines ältesten Sohnes zum Thronfolger bestimmt.
Nun war diese Thronfolge nicht unumstritten und führte auch langfristig zu Unsicherheiten und desaströsen Kämpfen. Aber der Roman vermittelt den Eindruck, daß das Recht des ältesten Sohnes auf die Thronfolge überhaupt nicht in Frage stand und daß es zumindest manchen nur recht und billig erschien, daß es nach demselben Prinzip auf ein Kind übergehen konnte.
Dieses Prinzip ist das Prinzip der Primogenitur, also des Rechtes des erstgeborenen Kindes (meistens Sohnes) auf Erb- und Thronfolge.
Die Perspektive der Islamhistorikerin
Selbstverständlich war mir dieses Prinzip vertraut. Doch die Schilderung dieses Falles in Gablés Roman ließ mich fassungslos zurück. Edward III., der besagte Großvater, hatte nämlich noch mehrere quicklebendige erwachsene Söhne, darunter den mächtigen John of Gaunt, Duke of Lancaster.
Gerade dieser mächtige Herzog aber unterstützte seinen minderjährigen Neffen. Und der regierte nicht etwa nur kurze Zeit, sondern über 20 Jahre lang. Das irritierte mich wirklich.
Also dachte ich darüber nach, warum mich diese Geschichte so in Erstaunen versetzte. Der Grund war schnell gefunden: Ich hatte mich seit meiner Schulzeit, also seit mehr als fünfzehn Jahren, intensiv mit der Geschichte der islamischen Kulturen auseinandergesetzt. Und da verliefen solche Geschichten ganz anders.
Natürlich gab es auch dort immer wieder einmal Kindkönige. Doch deren Lebensdauer war meist sehr begrenzt. Und Fälle, in denen derart mächtige und reiche Onkel ihren minderjährigen Neffen auf den Thron geholfen und sie auch dauerhaft dort gehalten hätten, fallen mir so auf Anhieb überhaupt nicht ein.
Jemand wie John of Gaunt hätte zur selben Zeit in Iran oder Indien oder auch in den arabischen Ländern die Macht an sich gerissen und sich selbst zum König gemacht, da bin ich mir sicher.
Wenn blutjunge Könige dort unterstützt und an der Macht gehalten wurden, dann nicht von ihren eigenen älteren männlichen Verwandten, sondern von einem mächtigen Wesir oder General.
Solche Männer gehörten selbst nicht zur Dynastie und konnten keinen Thronanspruch geltend machen, aber sehr wohl für einen jungen König herrschen. Eine andere Interessenlage also.
Nun sind die Situationen nicht vergleichbar, und ich habe zu wenig Ahnung vom mittelalterlichen England, um die Unterschiede kompetent zu analysieren. Womöglich war John of Gaunt in einer ähnlichen Situation wie ein Wesir bei den Seldschuken oder Fatimiden, weil die Auffassung über Thronansprüche ganz anders war.
Immerhin hatte man sich in England auch im 14. Jahrhundert schon mit einem Parlament auseinanderzusetzen. Außerdem konnte ein europäischer König schlecht zwei Ehefrauen auf einmal haben. Das machte annähernd gleichaltrige Söhne unwahrscheinlich und das Primogeniturprinzip sinnvoll.
Anders muslimische Könige, denen durchaus im selben Jahr oder sogar Monat zwei legitime Söhne von unterschiedlichen Frauen geboren werden konnten. Das ist auch immer mal wieder vorgekommen, und in solchen Fällen hilft auch das Primogeniturprinzip nur bei sehr genauer Kalkulation weiter.
Was immer die Gründe für die sehr unterschiedliche Handhabung gewesen sein möge, eines ist jedenfalls sicher: In den islamischen Kulturen gab es in aller Regel keine dermaßen geordneten Verhältnisse, wenn es um die Nachfolge eines Herrschers ging.
Wie es bei den Muslimen funktionierte
Weder hielten sich Ghaznavidenherrscher wie Mas’ûd oder auch sein Vater Mahmûd selbst an die vom Vater ausdrücklich getroffenen Regelungen noch konnten die Seldschuken-Sultane sich auf einfache Nachfolgeprinzipien berufen. Hier versuchten sogar ältere Onkel aufgrund des Senioritätsprinzips, die Macht an sich zu reißen.
Das heißt, es wurde auch die Auffassung vertreten, daß der älteste Mann der Familie zu herrschen habe. Auch bei den Îlchânen konnte die Herrschaft nicht nur auf jeden Sohn übergehen, sondern auch auf den Brüder des verstorbenen Herrschers. Und die letzten Timuriden von Herât verloren über ihren Thronfolgestreitigkeiten die Herrschaft (allerdings wohl nicht nur deswegen).
Zu den indischen Timuriden, nämlich den Moguln, habe ich mich ja schon in verschiedenen Beiträgen geäußert. Aber da wird in nächster Zeit voraussichtlich noch einiges nachkommen. 😉
Zu den Ghaznaviden habe ich für mein E-Book einmal die Herrscherabfolge unter Angabe des Verwandtschaftsverhältnisses jedes Herrschers zu seinem Vorgänger zusammengestellt (das sind nicht ALLE Ghaznaviden):
Dabei fällt Ihnen vielleicht auf, daß “Sohn” sogar eher selten ist. 🙂
Oder sind die Türken schuld?
Doch wenn Sie aufmerksam gelesen haben, dann ist Ihnen vielleicht schon ein naheliegender Einwand eingefallen: Bei all den Dynastien, die ich oben aufgezählt habe, handelt es sich um turko-mongolische Familien. Vielleicht liegt das Thronfolgechaos ja daran?
Wenn man sich die Frühzeit muslimischer Herrschaft nach dem Tode Muhammads anschaut, sieht man aber, daß es hier zunächst einmal gar keine dynastische Herrschaft gab. Der Kalif, also der “Nachfolger” oder “Stellvertreter” des Propheten, wurde nämlich gewählt.
Das ging natürlich nicht lange gut, denn Einigkeit ist nicht eben eine besondere Stärke menschlicher Gesellschaften. Im Ergebnis etablierte sich bald eine Dynastie: die Umayyaden.
Als Dynastie erkennt man sie vor allem daran, daß zunächst einmal tatsächlich Söhne ihren Vätern auf den Thron nachfolgten. Das blieb allerdings nicht die ganze Zeit über so. In späteren Jahren ging die Herrschaft nicht nur gelegentlich auf einen Bruder über, sondern auch in einen anderen Zweig der Familie.
Abgelöst wurden die Umayyaden im Jahr 750 von den Abbasiden. Das sind die aus 1001 Nacht bekannten Kalifen von Bagdad, zu denen auch Hârûn ar-Raschîd gehörte. Diese Dynastie startete gleich damit, daß der zweite Kalif al-Mansûr seinem Bruder auf den Thron folgte.
Auch die Erbfolgeregelung des berühmten Hârûn ar-Raschîd wurde nicht beachtet – allerdings sah diese Regelung auch schon vor, daß Hârûns Thronfolger al-Amîn zwei seiner Brüder als Thronfolger anerkennen sollte. Das gefiel ihm wohl nicht, denn er wollte seinen Sohn zum Nachfolger machen. Im Ergebnis verlor er Thron und Leben im Jahr 813 an seinen Bruder al-Ma’mûn. Diesem folgte 833 ein weiterer Bruder nach.
Bei Hârûns Nachfolgeregelung ging es übrigens nicht um Primogenitur (al-Ma’mûn war etwas älter als al-Amîn), sondern unter anderem um die Stellung der Mütter: al-Amîns Mutter war eine freie Araberin, al-Ma’mûns Mutter eine persische Sklavin.
Einzig bei den Fatimiden scheint es deutlich geordneter zugegangen zu sein. Doch das war eine schiitische Dynastie, bei der die Designation des Imams durch seinen Vorgänger (hier meist: Vater) mehr Gewicht hatte. Als hier gegen Ende des 11. Jahrhunderts ein jüngerer Sohn vorgezogen und sein älterer Bruder übergangen wurde, führte das dann auch gleich zu einem Schisma.
Letztlich trieb ein Mogul das Prinzip, daß derjenige Prätendent aus der Herrscherfamilie den Thron errang, der sich militärisch durchsetzen konnte, auf die Spitze: Aurangzêb (reg. 1658-1707) machte als erster Mogul auch vor seinem Vater nicht halt.
Als er Schâh Dschahân (reg. 1627-58) in dessen eigener Festung eingeschlossen und zur Kapitulation gezwungen hatte, setzte er ihn kurzerhand ab und sich selbst auf den Thron. Da er sich kurz darauf auch sämtlicher rivalisierender Brüder entledigt hatte, blieb es auch dabei.
Besonders anständig fanden seine Zeitgenossen das zwar nicht, aber auch hier galt: Herrscher ist, wer die Macht auf seiner Seite hat, nicht die Moral. 😉
Doch auf diese faszinierende und ziemlich gut dokumentierte Episode der Mogulgeschichte gehe ich ein anderes Mal näher ein.
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