In den Ratgebern zum wissenschaftlichen Arbeiten, die ich als Studentin gelesen habe, wurde das Exzerpieren, also das Herausschreiben von Inhalten aus der gelesenen Literatur wärmstens empfohlen. Es soll dazu führen, daß man das Gelesene besser durchdenkt, weil man es in eigenen Worten wiedergeben muß. Außerdem muß man es zusammenfassen, und das zwingt dazu, Wichtiges von weniger Wichtigem zu unterscheiden. Nicht zuletzt heißt es, daß von Hand Aufgeschriebenes besser im Gedächtnis haften bleibt. Ich meine erst kürzlich wieder einen Bericht mit genau dieser Zielrichtung gesehen zu haben. Das scheint also nach wie vor eine anerkannte Auffassung zu sein.
Natürlich setzt der letzte Punkt voraus, daß man von Hand exzerpiert. Neulich habe ich irgendwo gelesen, daß das neuerdings auch als Mittel gegen unbewußtes Plagiieren empfohlen wird. Die Idee dahinter ist wohl, daß von Hand exzerpierte Textbausteine als fremdes Gedankengut erkennbar sind – im Gegensatz zu Textbrocken aus einem fremden Text, die man per Copy-and-Paste in den eigenen eingefügt und nicht sofort als Zitat markiert hat.
Diese Überlegung zeigt jedenfalls, wie weit das Exzerpieren von Hand vom normalen Arbeitsalltag heutiger Studenten und Wissenschaftler entfernt sein dürfte. Das soll nicht heißen, daß niemand mehr von Hand exzerpiert. Aber die meisten Menschen neigen nach meinem Eindruck doch dazu, gleich in ein Dokument auf dem Computer zu tippen, weil sich Eingetipptes leichter wiederverwerten läßt. Und es mittlerweile auch ganz andere Möglichkeiten gibt, Gelesenes zu organisieren, muß man sich für das Exzerpieren von Hand schon bewußt entscheiden. Zumindest wenn man nicht alt genug ist, um es ohne große Überlegung als jahrelange Gewohnheit weiterzuführen.
Ich bin dazu nicht alt genug, denn zu meiner Studienzeit gab es schon die Möglichkeit, kostengünstig größere Mengen von Kopien anzufertigen. Außerdem habe ich mir Bücher, mit denen ich intensiv arbeiten mußte oder wollte, immer schon gern angeschafft. Als Student kann man das sicher nicht mit allen wichtigen Werken machen, aber ein monatliches Budget für den Bücherkauf sollte man schon einkalkulieren.
Jedenfalls konnte ich schon als Studentin überwiegend mit Markierungen direkt im gelesenen Text arbeiten, und bis heute ziehe ich diese Methode dem Exzerpieren vor. Das Exzerpieren hat nämlich trotz aller genannten Vorzüge auch erhebliche Nachteile. Das gilt vor allem dann, wenn man längere Zeit an einer Untersuchung oder einem wissenschaftlichen Text arbeitet. Nach meiner Erfahrung vollzieht sich die wissenschaftliche Arbeit nämlich in Schleifen:
Man liest zunächst die Forschungsliteratur, um einen Überblick über das Arbeitsgebiet zu bekommen und die eigenen Forschungsfragen zu erarbeiten. Dann besorgt man sich das benötigte Quellenmaterial und analysiert es. Dabei ergeben sich meistens neuen Fragen, während die eine oder andere Ausgangsfrage vielleicht wegfällt, weil sie weniger wichtig ist oder sich nicht im gesteckten Zeitrahmen beantworten läßt oder weil sie womöglich völlig am vorliegenden Material vorbeigeht. Solche Korrekturen sind keine Pannen, sondern zeugen von angemessenem Umgang mit dem zu untersuchenden Material. Sie ergeben sich daher fast zwangsläufig – es sei denn, der Forscher kannte das Material bereits zu Beginn in- und auswendig. Doch das dürfte gerade bei jüngeren Wissenschaftlern und erst recht bei Studenten nur äußerst selten vorkommen. Hat man die notwendigen Korrekturen an den eigenen Forschungsfragen und – wenn nötig – der Methodik vollzogen, so muß in der Regel ein neuer, gezielterer Lesedurchgang durch die wesentliche Forschungsliteratur erfolgen. Denn bei solchen Korrekturen verschieben sich meist auch die Prioritäten, so daß unwichtig werden kann, was zunächst wichtig erschien, und umgekehrt.
Und was geschieht nun mit den Exzerpten aus der ersten Lektürephase? – Es kann durchaus vorkommen, daß sie unter der veränderten Perspektive gänzlich nutzlos werden. Noch gefährlicher ist es aber, wenn sie auch jetzt noch hilfreich erscheinen. Dann können sie nämlich dazu verleiten, das fragliche Buch oder den Aufsatz nicht noch einmal zur Hand zu nehmen. Da aber ein Exzerpt immer eine Zusammenfassung ist, kann notwendigerweise nur ein Teil des Gelesenen im Exzerpt enthalten sein. Im Idealfall sind das die Argumentation und die Hauptaussagen des Textes und natürlich alles, was einem zum Zeitpunkt der Lektüre wichtig erschien. Aber nachdem man nun tiefer in die Materie eingedrungen ist, braucht man vielleicht zu bestimmten Aspekten der Argumentation die Detailinformationen. Oder man hat bestimmte Aussagen zunächst nicht für wichtig gehalten und nicht notiert, obwohl sie unter dem neuen Blickwinkel durchaus von Bedeutung sind. Das Exzerpt verrät aber nicht unbedingt, daß man im fraglichen Werk noch einmal nachlesen sollte, und so entgehen einem womöglich wichtige Informationen.
Je nach Arbeitstechnik und Dauer der Untersuchung kann sich dieses Problem auch mehrmals ergeben, weil der Arbeitsprozeß in weiteren Schleifen verläuft und immer wieder Korrekturen notwendig werden. Es empfiehlt sich also, wichtige Literatur mehrmals durchzugehen. Dafür sind Markierungen direkt im Text durchaus hilfreich, um sich beim zweiten und dritten Durchgang schneller zu orientieren. Trotzdem behält man die Freiheit, ohne Umstände an solchen Markierungen vorbei und über sie hinaus zu lesen. Und schließlich wird man in vielen Fällen erst am Ende, wenn man den eigenen Text ausformuliert, genau wissen, welche Passagen man wörtlich zitieren möchte. Da findet man sie leichter, wenn sie beim letzten Lektüredurchlauf als potentielle Zitate markiert worden sind und man sie nicht erneut im unmarkierten Text suchen muß.
Doch nicht nur ein schleifenförmiger Arbeitsprozeß kann dazu führen, daß ältere Exzerpte nach einigen Monaten oder gar Jahren nicht mehr so hilfreich sind, daß sie den Aufwand rechtfertigen. Denn im Laufe der Arbeit und der verstreichenden Zeit wird man ja nicht nur älter, sondern auch erfahrener und belesener – um nicht zu sagen: klüger. Jedenfalls steht das zu hoffen. So erfreulich eine solche Entwicklung der eigenen Kenntnisse und Fertigkeiten ist, macht sie doch nicht selten die erneute Lektüre von Literatur nötig. Denn auch wenn ich zum Zeitpunkt x meine, einen Text vollkommen verstanden zu haben, so kann sich doch zum Zeitpunkt y herausstellen, daß ich mich getäuscht habe. Mit anderen Worten: Es ist durchaus möglich, ein Argument oder einen Beleg mißzuverstehen und das erst mit gewachsener Erfahrung zu erkennen. In einem solchen Fall kann man sich aber nicht mehr auf die Zusammenfassung in eigenen Worten verlassen, sondern man muß erneut zum gelesenen Text zurückkehren, um den dort dargelegten Gedankengang zu überprüfen.
Man mag einwenden, daß so etwas nicht allzu häufig vorkommt, aber gerade in den Fremdkulturwissenschaften (ganz besonders, wenn sie historisch ausgerichtet sind) kann diese Gefahr gar nicht unterschätzt werden. Hier sind Erfahrung und Belesenheit besonders wichtig, um die richtigen Schlüsse ziehen und folglich auch die Argumentation anderer Forscher kritisch nachvollziehen zu können.
Grundsätzlich sind zwar Vorteile des Exzerpierens nicht von der Hand zu weisen. Insbesondere mag es dabei helfen, den roten Faden und den Aufbau einer Forschungsarbeit zu erkennen und sich die Argumentation mit ihren Stärken und Schwächen bewußter zu machen. Als einziges Mittel, Gelesenes zu organisieren, birgt es aber auch Gefahren. Und in einer Zeit, in der man sogar PDF-Dateien am Computer mit Markierungen und Anmerkungen aller Art versehen kann, ist das Exzerpt nur noch eine Möglichkeit unter vielen, um Gelesenes zu organisieren und griffbereit abzulegen.
Als Mittel der Texterschließung bei der Erstlektüre mag das Exzerpieren nach wie vor sinnvoll sein. Es setzt aber auch ein gewisses Maß an Geduld voraus, denn natürlich bremst es den Lesefluß. Mir persönlich geht das auf die Nerven, auch wenn ich mich eben selbst davon überzeugt habe, daß das Exzerpieren eigentlich eine sinnvolle Ergänzung zum Markieren ist. 😉
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