Aus gegebenem Anlaß möchte ich hier das Thema meines letzten Beitrags „Bücherlesen als Beruf?“ noch einmal aufgreifen.
Auf Facebook merkte ein Kollege zu meinem letzten Beitrag an, es sei unter den gegebenen Umständen schwierig, dem geistigen Werk eines anderen Wissenschaftlers gerecht zu werden und auch die Feinheiten der Gedankenführung zu berücksichtigen. Das scheint mir tatsächlich ein Problem zu sein, das unmittelbar die Seriosität wissenschaftlichen Arbeitens in Frage stellt. Wenn ich das Werk eines anderen Wissenschaftlers schon gar nicht mehr komplett durchlesen kann, geschweige denn auf die Feinheiten seiner Argumentation achten, was habe ich aus der „rezipierten“ Literatur dann eigentlich aufgenommen? Laufe ich da nicht Gefahr, etwas falsch zu verstehen oder völlig zu übersehen?
Diese Fragen muß man sich gerade deshalb stellen, weil Wissenschaftler im allgemeinen dazu neigen, sehr präzise zu formulieren – schon um zu vermeiden, daß man ihnen nicht zu rechtfertigende Behauptungen unterstellt. Und wenn Mißverständnisse beim flüchtigen Lesen vorprogrammiert sind, das flüchtige Lesen sich unter Wissenschaftlern aber immer mehr ausbreitet, welche Qualität hat dann eigentlich die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit einem Thema? Sollte es dabei nicht darum gehen, erst genau zu verstehen, was andere Wissenschaftler sagen wollen, und das dann kritisch zu reflektieren? Im Grunde ja schon, aber dann geht das Lesen doch recht langsam voran.
Wie langsam, das hat ein Soziologie-Professor im Selbstversuch getestet und im Eingangsbeitrag des neuesten „Forschung & Lehre“-Heftes (Zeitschrift des Deutschen Hochschulverbandes) mitgeteilt: Er habe einen Aufsatz mit 28 Textseiten von vorne bis hinten durchgelesen und exzerpiert und dafür 1 Stunde und 18 Minuten gebraucht. Zwischendurch habe er lediglich einmal Holz im Kaminofen nachgelegt. Er hat also sehr konzentriert gearbeitet, fast ohne Unterbrechungen (Forschung & Lehre 5|14, S. 341 oder online http://www.forschung-und-lehre.de/wordpress/?page_id=298).
Das wäre also die Zeit, die man für eine gründliche Lektüre von Forschungsliteratur aufwenden müßte: rund 2,7 Minuten pro Seite. Und dann hat man noch keine Quellen ausgewertet und selbst noch keine einzige Seite Text geschrieben. Faktisch liest man natürlich keineswegs jeden Titel in der eigenen Literaturliste auf diese Weise. Die im selben Beitrag genannten Techniken, bei Aufsätzen das Abstract zu lesen, bei Büchern den Klappentext oder Inhaltsverzeichnis sowie Einleitung und Ergebnis, sind sicherlich verbreitet. Nur sollten diese Techniken als ersten Schritte zur Erschließung von Literatur verwendet werden und nicht als Ersatz für die eigentliche Lektüre.
Die Frage ist nur: Wer hat noch die Zeit, sich den Luxus gründlichen Lesens zu leisten? Lebenszeitprofessoren sollten sie eigentlich haben und sich auch nicht vom Trend zur schnellen Publikation beeindrucken lassen. Aber wieviel Forschung stammt heute noch von Lebenszeitprofessoren? Und wie soll der „Nachwuchs“ entsprechende Standards einhalten können? Außerdem steht zu befürchten, daß die schlechten Lesegewohnheiten bereits zur zweiten Natur geworden sind, bis man endlich auf der Lebenszeitprofessur angekommen ist – bei denen, die dort überhaupt ankommen.
Womöglich sollte man auf breiter Front dazu übergehen, die Publikationen von Wissenschaftlern tatsächlich zu lesen, um ihre Qualität zu beurteilen. Wenn man weiß, daß jede einzelne Publikation wahrscheinlich von vorne bis hinten kritisch gelesen wird, dann publiziert man automatisch anders. Wahrscheinlich publiziert man auch automatisch weniger. Und schon wird es einfacher, die Publikationen wirklich zu lesen. Weil es nicht mehr so viele sind.
Quelle
Clemens Albrecht: „Standpunkt“ Forschung & Lehre 5 (2014) 341.
http://www.forschung-und-lehre.de/wordpress/?page_id=298
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