Finde den Denkfehler! – Wenn Muslime Ayurveda auf persisch erklären

Vor ein paar Jahren fiel mir in einem persischen Werk über ayurvedische Medizin aus dem 17. Jahrhundert eine interessante Argumentationsfigur auf. Meiner Ansicht nach ist sie ein Hinweis darauf, daß indische Muslime ganz selbstverständlich davon ausgingen, daß Medizin ein global verbreitetes Wissensfeld sei, das selbstverständlich gemäß der Theorie der graeco-islamischen Medizin funktioniere.

So ähnlich ist das heute in der modernen westlichen Medizin ja auch: Medizin ist global anwendbar und gültig, und es kann auch in allen Traditionen der Welt wirksame Heilmittel und Behandlungsmethoden geben. Ob sie allerdings wirksam sind, zeigt sich erst, wenn sie unter Laborbedingungen mit naturwissenschaftlicher Methodik getestet worden sind.

Sind Heilerfolge unter diesen Voraussetzungen reproduzierbar, dann ist das Mittel oder die Methode wirksam und kann in die medizinische Behandlung integriert werden. Anderenfalls zählt es nicht zur Medizin, sondern ist Scharlatanerie.

Das wirksame Mittel oder die wirksame Behandlung sind also unabhängig von der Theorie wirksam, die ihrer Anwendung in der Herkunftstradition ursprünglich zugrunde lag. Mit anderen Worten: Man kann die ursprüngliche Theorie ignorieren, die ohnehin nicht richtig sein kann, sofern sie nicht mit modernen naturwissenschaftlichen Erkenntnissen übereinstimmt.

Ein Beispiel: Bestimmte Heilmittel, die seit Jahrhunderten in der graeco-islamischen Medizin zur Behandlung bestimmter Krankheiten verwendet werden, können sich in einem Labortest durchaus als wirksam gegen diese Krankheiten erweisen. Trotzdem wird man aber die Säftelehre, die in der graeco-islamischen Tradition bis dahin zur Erklärung der Wirksamkeit dieser Mittel herangezogen wurde, als falsch betrachten, weil sie modernen naturwissenschaftlichen Erkenntnissen nicht entspricht.

Mit anderen Worten: Man wendet auf diese Heilmittel eine der Ursprungstradition fremde Theorie an, derzufolge die Theorie der Ursprungstradition falsch sein muß. Wenn die Heilmittel diesem Prozeß standhalten, dann werden sie akzeptiert.

Soweit die Sichtweise der modernen westlichen Medizin. Doch was tut unser Verfasser des persischen Werkes aus dem 17. Jahrhundert? Auch er ist in erster Linie an Heilmitteln und Behandlungsmethoden aus dem Ayurveda interessiert, vermutlich weil er sie als wirksam erachtete. Was jedoch die zugehörige Theorie angeht, argumentiert er wie folgt:

Einige Ärzte Indiens wie Dhanvantari und Sušruta und Čaraka haben gesagt, der Mensch sei aus fünf h-t-t (vermutlich eine Verschreibung für b-h-t, also bhut von den fünf ayurvedischen Elementen mahabhuta), das heißt, aus fünf Elementen zusammengesetzt, nämlich den vier erwähnten [Erde, Wasser, Luft und Feuer, SK] und dem fünften, dem Himmel, aber diese Behauptung ist falsch, denn wenn es so wäre, dann wäre auch sein Gegenpart notwendig, denn ohne seinen Gegenpart kann kein Element für eine lange Zeitspanne in einer Zusammensetzung bleiben. (S. 4f)

Mit anderen Worten, der Autor argumentiert gegen das Konzept von fünf Elementen in der ayurvedischen Medizin, indem er die in der graeco-islamischen Medizin verbreitete Logik anwendet. Demnach benötigt jedes Element einen Gegenpart, ohne den das nötige Gleichgewicht innerhalb der Verbindung der Elemente zu einem Körper nicht gehalten werden kann.

Jedes Element hat nämlich eine von vier Primäreigenschaften, von denen jeweils zwei einen Gegensatz bilden: heiß, kalt, feucht und trocken. In diesem System halten sich dann die Elemente mit gegensätzlichen Primäreigenschaften gegenseitig im Gleichgewicht. Unter dieser Voraussetzung ist die Annahme von fünf oder jeder anderen ungeraden Anzahl von Elementen in der Tat unsinnig.

Nur ist diese Voraussetzung im Denkgebäude der ayurvedischen Medizin in dieser Form nicht vorhanden. Aus der Sicht eines modernen Kulturwissenschaftlers enthält das Argument des Autors deshalb einen Denkfehler. Allerdings einen, den wir heute auch häufig machen, ohne es überhaupt zu bemerken (s.u.)

Selbstverständlich funktioniert die Theorie der ayurvedischen Medizin von den fünf Elementen auf Grundlage der Denkvoraussetzungen der graeco-islamischen Medizin nicht.

Denn die graeco-islamische Medizin geht ja davon aus, daß es nur vier Elemente gibt, von denen sich jeweils zwei immer gegenseitig ausbalancieren müssen.

Nur heißt das nicht, daß die Theorie von den fünf Elementen auf Grundlage der Denkvoraussetzungen der ayurvedischen Medizin nicht sehr gut funktionieren kann. Tut sie natürlich auch.

Die Anwendung einer Denkvoraussetzung aus der graeco-islamischen Medizin könnte in diesem Fall auch damit zu tun haben, daß der Verfasser ayurvedische Begrifflichkeiten auf persisch verständlich machen muß. Dazu verwendet er die aus der graeco-islamischen Medizin bekannte Terminologie (z.B. das Wort für “Elemente”).

Da Wörter auch viele unausgesprochene Vorstellungen transportieren, kommt es dabei leicht zu unbemerkten Mißverständnissen.

Dieses Problem kennt man auch aus der Religionswissenschaft, wo häufig christliche Begrifflichkeiten verwendet werden, um nicht-christliche Vorstellungen zu erklären. Dabei kommt es leicht zu Verzerrungen, wenn man nicht sehr aufpaßt.

Der grundlegende Denkfehler unseres persischsprachigen Autors bei der Beurteilung ayurvedischer Theorie dürfte nun offenkundig sein: Die Denkvoraussetzungen und Logik einer Tradition werden auf die Theorie einer anderen angewendet und führen deshalb folgerichtig zu der Überzeugung, daß die Theorie der anderen Tradition unsinnig sei – zumindest mit Blick auf diesen Punkt.
Aber wie oft wenden wir im alltäglichen Umgang mit anderen Kulturen und in der öffentlichen Diskussion über sie ebenfalls unsere eigenen, kulturell geprägten Denkvoraussetzungen an?
Wann immer wir das tun, machen wir genau denselben Denkfehler, ohne es überhaupt zu merken. Achten Sie doch bei der nächsten Diskussion über “den Islam” und “die Muslime” einmal darauf! Vielleicht machen Sie dabei interessante Entdeckungen.

P.S.:

Falls Sie mehr über meine Überlegungen zu den Ähnlichkeiten der graeco-islamischen und der modernen westlichen Medizin als “globaler Medizin” ihrer jeweiligen Zeit wissen möchten, können Sie meinen wissenschaftlichen Aufsatz zu diesem Thema hier kostenlos herunterladen: http://omp.ub.rub.de/index.php/RUB/catalog/book/24.

Quelle

Amnābādī (oder: Eymanābādī), Darvīš Moḥammad: Ṭebb-e Aurangšāhī. Ms. Persian 202 C der Wellcome Library, London.

Bildnachweis:

Eigener Screenshot mit Verfremdungseffekt von Ms. Persian 202 C (Wellcome Library, London), S. 4f.

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