Alkoholismus und Ambiguitätstoleranz: Dschahângîr über seine Brüder und den Alkohol

Dschahângîr war einer der wenigen Moguln, die sich bei der Thronbesteigung nicht mit rivalisierenden Brüdern herumschlagen mußten. Nicht weil er keine Brüder gehabt hätte. Doch die hatten sich zum Todeszeitpunkt ihres Vaters Akbar bereits selbst aus dem Weg geräumt. Wie das kam, berichtet Dschahângîr selbst in seinen Memoiren.

Sein Bruder Schâh Morâd wurde 1570 weniger als ein Jahr nach Dschahângîr geboren. Er war Dschahângîrs Halbbruder, hatte also eine andere Mutter. Akbar schickte ihn auf den Dekkan, wo er im Jahr 1599 durch seinen exzessiven Weinkonsum im Alter von nicht einmal dreißig Jahren starb.

Dieser Bruder war also beim Ableben Akbars im Jahr 1605 bereits tot. Dschahângîr meint, sein übertriebener Alkoholkonsum sei schlechter Gesellschaft zuzuschreiben. Doch das Muster des Alkoholkonsums von Dschahângîr selbst legt nahe, daß nicht allzu viel Einflußnahme von außen nötig gewesen sein dürfte.

Auch Dschahângîrs zweiter Bruder wurde nicht alt. Er hieß Dânyâl und war drei Jahre nach Dschahângîr im Jahr 1572 als Sohn einer der Konkubinen geboren worden, also ebenfalls ein Halbbruder. Nach dem Ableben seines älteren Bruders Morâd ernannte Akbar Dânyâl im Jahr 1601 zum Statthalter des Dekkan.

Laut Dschahângîr folgte er Morâds schlechtem Beispiel und starb 1604 ebenfalls an übermäßigem Weinkonsum. Und das ergab sich so:

Als Akbar von Dânyâls Trinkgewohnheiten hörte, wies er einen der hohen Adligen in Dânyâls Umfeld zurecht. Dieser verbot Dânyâl deshalb den Alkoholgenuß und ließ ihn sogar bewachen.

Als der Prinz daher nicht mehr an Alkohol herankam, befahl er einem der Musketiere, Wein in den Lauf seines Lieblingsgewehrs zu schütten und ihn auf diese Weise versteckt zu ihm zu bringen. Der Musketier füllte doppelt gebrannten Schnaps in den Lauf und brachte ihn zu Dânyâl. Offenbar bekam dem Prinzen die Mischung aus Schießpulver, gelöstem Rost und Schnaps aber nicht besonders. Jedenfalls meint Dschahângîr, Dânyâl sei daran gestorben.

Prinz Dânyâl

Prinz Dânyâl

In jedem Fall war damit im Jahr 1605, als Akbar starb, nur noch ein Sohn übrig, der die Thronfolge antreten konnte: Dschahângîr selbst, der damals noch Salîm hieß. Über Dschahângîrs Trink- oder eher Saufgewohnheiten habe ich hier schon einiges erzählt.

Umso interessanter ist der besserwisserische Ton seiner Kommentare über die “Unsitten” seiner Brüder. Aber es wird noch faszinierender, wenn wir uns die berühmten “12 Dekrete” Dschahângîrs anschauen.

Im fünften Dekret verbot er nämlich die Herstellung und den Verkauf von Wein, Alkoholika und anderen Rauschmitteln:

Des weiteren soll man keinen Wein und Alkoholika und was zu den Arten der Rauschmittel und verbotenen Dinge gehört herstellen oder verkaufen.

Dies obwohl ich mir selbst das Weintrinken zuschulden kommen lasse und es seit dem achtzehnten Lebensjahr bis jetzt, wo ich die Achtunddreißig erreicht habe, beständig getan habe. (Dschahângîr-nâme, S. 6)

Mit den “verbotenen Dingen” ist hier all das gemeint, was das islamische religiöse Recht verbietet.

Interessant, nicht? Dschahângîr ist sich des Widerspruchs zwischen seinen eigenen Handlungen und seinem Dekret voll bewußt. Ihm ist auch klar, daß er religionsrechtlich Verbotenes seit Jahren im Exzess praktiziert. Aber das stört ihn gar nicht weiter, und er gibt es auch unumwunden zu.

Ich weiß nicht, wie es Ihnen geht, aber heutzutage würde ich irgendeinen Ausgleich dieses Widerspruchs erwarten – sei es eine Entschuldigung für das eigene Verhalten oder eine Erklärung darüber, warum das religiöse Recht in diesem Fall nicht relevant ist, oder zumindest eine Erläuterung, warum er dieses Dekret erläßt, wenn ihm die religionsrechtlichen Verbote eigentlich schnuppe sind. Doch nichts dergleichen.

Nun dienten diese Dekrete zweifellos auch propagandistischen Zwecken und müssen daher nicht zwangsläufig mit Dschahângîrs wirklichen Ansichten oder mit seiner Lebensführung übereinstimmen. Trotzdem zeigt die unumwundene Art, in der Dschahângîr in seinen Memoiren über sein eigenes Verhalten spricht, vor allem eines sehr deutlich: die ungleich größere Ambiguitätstoleranz in der islamischen Kultur bis in die Frühe Neuzeit hinein.

Das bedeutet: Man hatte viel weniger Probleme mit Widersprüchen und Uneindeutigkeiten als wir (und die Muslime) heute. Insbesondere Verhaltensweisen, die den Normen widersprachen, waren längst nicht so problematisch, wie wir das vermuten würden. Allerdings konnte sich nicht jeder leisten, so freimütig darüber zu plaudern wie der Herrscher des Mogulreiches.

Dschahângîrs Memoiren waren natürlich auch nicht für den einfachen Mann auf der Straße bestimmt, sondern für seine Familie, die hohen Emire und Höflinge, sprich: für die Spitze der Gesellschaft. Doch auch die Memoiren waren letztlich Propaganda. Wir haben es also nicht mit einem privaten Geständnis zu tun, sondern durchaus mit dem Bild, das der Herrscher offiziell in seiner Umgebung von sich verbreiten wollte.

Was lernen wir daraus? – Lange Zeit war die islamische Kultur in ihren verschiedenen Ausprägungen deutlich ambiguitätstoleranter als die neuzeitliche abendländische Kultur und die gegenwärtige Kultur hier wie dort.

Obwohl viele Normen und Verbote theoretisch anerkannt und als gültig betrachtet wurden, wich das praktische Verhalten doch zuweilen (manchmal auch häufig) von ihnen ab, ohne daß dies Konsequenzen gehabt hätte – übrigens nicht nur in der herrschenden Schicht.

Unter diesen Umständen ließ es sich mit vielen Vorschriften sicher leichter leben als heute. Vor allem erzeugte dies aber eine andere Wahrnehmung dessen, was wir als Widersprüche empfinden: Man konnte sie einfach so stehen lassen.

Wer weiß: Vielleicht täte uns heute eine Prise mehr Uneindeutigkeit hie und da ja auch ganz gut?

Quelle

Nûr ed-Dîn Mohammad Dschahângîr-e Gûrkânî: Dschahângîr-nâme: Tûzok-e dschahângîrî. Hrsg. v. Mohammad-e Hâschem. [Tehrân]: Bonyâd-e farhang-e Îrân, 1359 sch./1980. 6, 20f.

Jahangir, Salîm Nûruddîn: The Jahangirnama. Memoirs of Jahangir, Emperor of India. Translated by Wheeler M. Thackston, New York [u.a.]: Oxford Univ. Press, 1999. 36, 37-39.

Bildnachweis

Beitragsbild: Indischer Weinpokal, 18. Jh., Louvre
Quelle: Wikimedia Commons
Autor: Marie-Lan Nguyen
gemeinfrei

Prinz Dânyâl:
Quelle: Wikimedia Commons
Autor unbekannt
gemeinfrei

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