Omar Khayyams umstrittene Botschaft

Im ersten Teil meiner Omar-Khayyam-Miniserie haben Sie erfahren, warum manche Forscher bezweifelt haben, daß Omar Khayyam überhaupt jemals Vierzeiler gedichtet hat. Doch selbst wenn wir annehmen, daß einige der Vierzeiler wirklich von Khayyam stammen, wissen wir deshalb noch längst nicht, was er uns damit eigentlich sagen wollte.

Ich habe Ihnen ja erläutert, daß und warum ich es durchaus für wahrscheinlich halte, daß Khayyam Vierzeiler gedichtet hat. Mehdi Aminrazavi, der Verfasser der aktuellsten Khayyam-Monographie in einer europäischen Sprache, ist darüber hinaus der Meinung, daß Khayyams Gedankenwelt auch in den unechten, Khayyam nur zugeschriebenen Vierzeilern erkennbar sein müßte.

Darauf kommt er deshalb, weil ihm in allen Vierzeilern eine “Familienähnlichkeit” aufgefallen ist. Im wesentlichen besteht diese aus ähnlichen Motiven, Metaphern und Gedanken.

Ein Vierzeiler mit Metaphern und einer Gedankenführung, wie sie als typisch für Khayyam gelten, ist dieser hier:

Wie ich verliebt, der Krug einst klagend sang
Und sehnte sich nach der Geliebten bang;
Einst war der Henkel, den am Hals du siehst,
Sein Arm, der sich um ihren Nacken schlang.
(Naghed/von der Porten, Nr. 9, S. 24f)

Wenn es in den erhaltenen Vierzeilern eine so deutliche Ähnlichkeit gibt, so ist anzunehmen, daß die Gemeinsamkeiten der erhaltenen Vierzeiler auch Eigenarten der echten, ursprünglichen Khayyam-Vierzeiler waren. Deshalb wurden die unechten Vierzeiler ihm überhaupt zugeschrieben.

Nur wenn man diese Überlegungen voraussetzt, kann man die Khayyam zugeschriebenen Vierzeiler verwenden, um sich ein Bild von seiner Botschaft zu machen. Denn wir haben ja keine Möglichkeit herauszufinden, ob die echten, wirklich von Khayyam verfaßten Vierzeiler unter den erhaltenen Vierzeilern sind.

Mir scheinen Aminrazavis Überlegungen durchaus berechtigt. Schauen wir also einmal, was dabei herauskommt, wenn man in den Vierzeilern nach Omar Khayyams Botschaft sucht!

Gegensätzliche Interpretationen

Die Übersetzer des 19. Jahrhunderts scheinen besonderen Gefallen an skeptisch und epikureisch anmutenden Tönen gefunden zu haben. So wurde Khayyam für sie zur Verkörperung des orientalischen Weisen, der zum Genuß des flüchtigen Lebens aufruft. Alles, was über ein Jenseits gepredigt wurde, schien er anzuzweifeln.

Vierzeiler wie dieser hier klingen da recht eindeutig:

Chajjâm, solang du trunken bist vom Wein, sei glücklich –
Solang im Schoße dir ein Mägdelein, sei glücklich –
Und da der Dinge Ende ist das Nichts,
So bilde, daß du nichts bist, stets dir ein! sei glücklich!
(Naghed/von der Porten, Nr. 16 d. “echten Verse”, S. 140f)

In diesem Fall bildet die Übersetzung übrigens tatsächlich das Reimschema des Originals nach, bei dem der Reim auf dem Ende des vorletzten Wortes liegt und danach die Wiederholung derselben Wortfolge steht.

Auf der anderen Seite wurden (und werden bis heute) aber auch Stimmen laut, die eine mystische Interpretation der Vierzeiler propagierten und Khayyam zum Sufi machen wollten. Demnach wären Begriffe wie “Wein” und “Rausch” nicht einfach wörtlich zu verstehen, sondern als Metaphern für Aspekte der mystischen Erkenntnis zu interpretieren. Auch dafür läßt sich bei manchen Vierzeilern recht gut argumentieren, wenn auch sicher nicht bei allen.

Oder doch nicht so gegensätzlich?

Beides geht nicht gut zusammen: Zweifel am Sinn des Weltenlaufs, das Eingeständnis der eigenen Ratlosigkeit und die Aufforderung, angesichts der allgegenwärtigen Vergänglichkeit den flüchtigen Moment mit sinnlichen Vergnügungen zu feiern, passen nicht so recht zur intuitiven oder gar ekstatischen Erkenntnis des Gottsuchers.

Gräbt man allerdings etwas tiefer, so geht die Konzentration des Epikureers auf den gegenwärtigen Moment womöglich doch nicht so schlecht mit dem durch Meditation erreichbaren Gefühl des Vereintseins mit dem Göttlichen zusammen.

Denn Meditation zielt letztlich auf das Ausschalten des Gedankenstroms, der uns immerzu in Zukunft und Vergangenheit trägt und beständig vom gegenwärtigen Augenblick trennt – dem Augenblick, dessen volle Wahrnehmung im reinen Sein mit dem Verschmelzungserlebnis der Mystiker verwandt, wenn nicht identisch sein dürfte.

Nichts anderes als eine Form der Meditation betreiben ja auch die Sufis mit ihrem vierzigtägigen Rückzug von der Welt oder wenn sie sich mit eintönigen Wortwiederholungen und rhythmischen Bewegungen in eine Trance wiegen.

Der Fokus auf den Augenblick wird zum Beispiel hier deutlich:

Wie Wasser in dem Strom, wie Wüstenwind
Die Tage spurlos mir vergangen sind.
Zwei Tage haben niemals mich gegrämt:
Der Tag, der war, und der der Zukunft Kind.
(Naghed/von der Porten, Nr. 20, S. 32f)

Doch diese Lesart stammt nur aus meinen freien Assoziationen. Und sie läßt sich wohl kam durch alle Vierzeiler verfolgen. Trotzdem zeigen sie vielleicht einen Blickwinkel auf, aus dem klar wird, wie so gegensätzliche Interpretationen möglich sind.

Die Fragen des Zweiflers

Doch die quälend zweifelnde, vielleicht nahezu verzweifelnde Haltung des Fragers und Suchers, der sich schließlich aus Mangel an Antworten für den Genuß des Augenblicks entscheidet, scheint wieder etwas ganz anderes zu sein als die Erleuchtung eines weit vorangeschrittenen Mystikers.

Hier noch einmal das Beispiel aus dem ersten Teil, dieses Mal in der poetischen Übertragung des Walter von der Porten (Rempis habe ich immer noch nicht vorliegen):

Von diesem Kreis, in dem wir uns hier drehn,
Kann ich nicht Anfangspunkt noch Endpunkt sehn.
Und keiner sagt mir, wo wir kamen her,
Und keiner weiß, wohin von hier wir gehn.
(Naghed/von der Porten, Nr. 11 d. “echten Verse”, S. 136f)

Ähnlich klingt dieser Vierzeiler:

Du stammst von Elementen vier und sieben Sphären,
Was kann dich Grübeln über vier und sieben lehren?
Trink Wein! Ich habe dir’s schon hundertmal gekündet:
Wenn du einst gehst, wirst du zur Welt nicht wiederkehren.
(Naghed/von der Porten, Nr. 13 d. “echten Verse”, S. 138f)

Mich haben die Khayyam-Vierzeiler vom ersten Moment an unmittelbar angesprochen, weil ich sie nie allegorisch gelesen habe. Zu mir haben aber auch nicht die Bilder von Wein, Liebe und Lebensgenuß gesprochen, die im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert epikureisch gedeutet wurden.

Nein, mich hat dieser Mensch angesprochen, der nach dem Sinn von allem fragt und seinem brillanten Verstand zum Trotz keine Antwort findet. Auch die Widerborstigkeit, die Behauptung eines eigenen Denkens und Wesens in einer Welt des Konformismus empfinde ich als vertraut. Doch dazu kommen wir zum Schluß noch einmal.

Aminrazavis Khayyam

Meinen persönlichen Bezug zu Khayyam habe ich jedenfalls mit Mehdi Aminrazavi gemeinsam. Nur hat er sich die Mühe gemacht, eine Monographie über Khayyam und seine “Denkschule” zu verfassen. Daher wenden wir uns nun seiner Deutung zu.

Nach Durchsicht von Khayyams philosophischen Werken und der Überlieferungen zu seinem Leben und Wirken kommt er zu dem Schluß, daß unser Dichterphilosoph keineswegs die Existenz Gottes in Frage gestellt hat. Vielmehr identifizierte er die Wahrheit mit Gott. Wie es aussieht, hielt er sich auch an die Regeln seiner Religion und verstand sich zweifellos als Muslim.

Trotzdem war Khayyam zu intelligent, gebildet und reflektiert, um nicht die üblichen Fragen des Zweiflers zu stellen: nach dem Sinn des Lebens, nach dem Platz des Bösen in der Welt und welchen Reim wir uns auf die Welt machen können, wenn wir zugleich einen gerechten Gott annehmen wollen. Hier befriedigten ihn die Antworten der Religion nicht – zumindest nicht in der konventionellen Lesart.

Er setzt die Wahrheit mit Gott gleich, dessen Existenz er logisch bewiesen hat, zumindest so, daß es ihn selbst zufriedenstellte. Sein rationaler, wissenschaftlicher Verstand jedoch akzeptierte keine der religiösen Standardantworten auf die großen Rätsel der menschlichen Existenz und konnte sie auch nicht akzeptieren. Tatsächlich ging er sogar so weit zu sagen, daß niemand die Wahrheit über solche Dinge wisse und daß es daher keinen Sinn habe, darüber zu spekulieren.
(Aminrazavi, S. 282)

In den wesentlichen Detailfragen war Khayyam nach dieser Interpretation dann doch ein Agnostiker – auch wenn er die Existenz Gottes nicht in Zweifel zog und in einem seiner wissenschaftlichen Traktate sogar die Wahrheitssuche der Sufis als den besten Weg bezeichnete (Aminrazavi, S. 136).

Khayyam gehört sich selbst

Doch wahrscheinlich sollte man darauf verzichten, Khayyam eindeutig einordnen oder auf eine bestimmte Botschaft festlegen zu wollen. Schließlich sind die “Khayyam-Vierzeiler” für alle da.

Solange man seine Interpretation nachvollziehbar an den Texten begründen kann und damit andere überzeugt, hat man eine gültige Lesart. Allerdings nur EINE, nicht DIE Lesart. 😉

Mein persönliches Motto ist ja der Schluß dieses Vierzeilers, den ich natürlich für ausgesprochen “khayyamisch” halte:

Wenn ich vom Wein der Magier trunken bin, so bin ich’s,
Wenn ich ein Ungläubiger, Feueranbeter oder Götzendiener bin, so bin ich’s,
Jede Gruppe hat einen Verdacht gegen mich,
Ich gehöre mir selbst, so wie ich bin, so bin ich.

Und weil diese Prosafassung mal wieder nicht annähernd den Reiz des Originals wiedergibt, in Ermangelung einer hübschen Nachdichtung hier noch einmal die Umschrift des persischen Originals:

Gar man ze mey-e moghâne mast-am, hastam,
Gar kâfar-o gabr-o bot-parast-am, hastam,
Har tâyefe-î be man gomân-î dârad,
Man z-ân-e chod-am, tschenân-ke hastam, hastam.

(Hedâyat, Nr. 74, S. 92)

Damit möchte ich diesen Ausflug zu Khayyam und seinen Vierzeilern zumindest vorläufig beschließen, mit meinem Motto und Khayyams eigenen Worten (oder dem, was ich gern dafür halten möchte):

Ich gehöre mir selbst, so wie ich bin, so bin ich.

Quellen und Literatur

Mehdi Aminrazavi: The Wine of Wisdom: The Life, Poetry and Philosophy of Omar Khayyam. Oxford: Oneworld Publications, 2005. S. 136, 278-282.

Sâdegh Hedâyat: Tarâne-hâ-ye Khayyâm. 4. Aufl. Tehrân: Amîr-Kabîr, 1342 sch./1963.

Omar Chajjam: Wie Wasser im Strom, wie Wüstenwind: Gedichte eines Mystikers. Zweisprachige Ausgabe. Hrsg. v. Khosro Naghed. Übers. nach der Bodley’schen Handschrift von Walter von der Porten. Meerbusch: Edition Orient, 1992.

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4 Kommentare

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