Wo das Gestern noch lebendig ist: Die indo-muslimische „Unani Medicine“

Wir alle kennen die Begriffe „Temperament“ und „Humor“. Nur erkennen wir am Alltagsgebrauch dieser Begriffe nicht mehr, daß sie einen medizinischen Ursprung haben. Sie stammen nämlich aus der Humoralmedizin (oder: Humoralpathologie), der „Säftelehre“. Das war die in Europa bis ins 19. Jahrhundert vorherrschende Medizin. Sie wurde in der Antike entwickelt und ist mit den Namen Hippokrates (5.-4. Jh. v. u. Z.) und Galen (2. Jh. n. u. Z.) verbunden. Auch in der islamisch geprägten Kultur folgte man der „Säftelehre“. Christen, Juden und Muslime beteiligten sich an der Übersetzung griechischer Schriften ins Arabische. Unter Einbeziehung altpersischer und indischer Kenntnisse entwickelten arabisch und persisch schreibende Gelehrte diese Medizin weiter. Schließlich lernten die Europäer im Mittelalter arabische Schriften muslimischer Autoren in lateinischer Übersetzung kennen und schätzen – allen voran den Canon des Avicenna, der in Europa zum Teil noch bis ins 18. Jahrhundert als Lehrbuch für angehende Mediziner benutzt wurde.

Die Grundannahme der Humoralmedizin war, daß der Zustand des menschlichen Körpers davon abhing, wie ausgewogen seine „Säfte“ waren. Diese „Säfte“ hatten dieselben Eigenschaften, die auch den Elementen als Grundbausteinen der gesamten Natur zugeordnet wurden: kalt, warm, feucht und trocken. Wie das Element Feuer warm und trocken war, so traf dies auch auf den Körpersaft „Gelbe Galle“ zu. Nicht nur das Element Luft galt als warm und feucht, sondern auch das Blut als Körpersaft. Kalt und trocken wie das Element Erde war auch die „Schwarze Galle“, und wie das Element Wasser galt auch der Körpersaft Schleim (auch Phlegma genannt) als kalt und feucht. Kein Wunder, denn auch die Körpersäfte bestanden natürlich aus den Elementen. Je nachdem, in welchem Verhältnis diese Körpersäfte in jedem einzelnen Menschen von Natur aus gemischt waren, konnte er einem von vier idealtypischen Temperamenten zugerechnet werden. In jedem dieser Temperamente überwog einer der vier Körpersäfte von Natur aus. Ein ausgewogenes Mischungsverhältnis der Körpersäfte sah also für jedes Temperament anders aus. Doch meist gehörte ein bestimmter Mensch in Wirklichkeit einem Mischtyp zwischen den Temperamenten an.

Heute verstehen wir unter „Humor“ die Eigenschaft, daß ein Mensch „Spaß versteht“. Damals bedeutete dieser lateinische Begriff einfach „Körpersaft“. Deshalb heißt die „Säftelehre“ auch „Humoralmedizin“ oder „Humoralpathologie“. Heute ist „Temperament“ für uns ein Begriff, der die Wesensart eines Menschen beschreibt, seine seelische Grundverfassung, die seine Reaktionen bestimmt. Man spricht von „hitzigem Temperament“, wenn jemand schnell aufgeregt oder sogar wütend wird. Damals hieß „Temperament“: die Mischung der Körpersäfte, bei der jeweils ein Körpersaft überwiegt. Auch den „Choleriker“ oder den „Phlegmatiker“ kennen wir als psychologischen Typ: Choleriker nennt man einen aufbrausenden Menschen, einen trägen Menschen dagegen bezeichnet man als Phlegmatiker. Dabei waren diese Begriffe früher die Bezeichnungen für Temperamente im Sinne von Mischungen der Körpersäfte: ein Phlegmatiker hatte ein Temperament, bei dem der Schleim – das Phlegma – überwog, ein Choleriker hatte ein Temperament mit besonders viel Gelber Galle. Bei einem Melancholiker dagegen überwog die Schwarze Galle, bei einem Sanguiniker das Blut. Natürlich gibt es einen Zusammenhang zwischen diesem medizinischen Verständnis und unserem Alltagsgebrauch: Auch den medizinischen Temperamenten, den Mischungen der Körpersäfte, ordnete man bestimmte psychische Verfassungen zu. Sie ergaben sich aus den Mischungen der Säfte und ihren Auswirkungen auf den Körper.

Doch in der Neuzeit hat sich in Europa das herausgebildet, was wir heute die moderne Medizin oder die Schulmedizin nennen. Die Humoralpathologie gilt als überholt, weil man andere Mittel gefunden hat, die Funktionsweise des Körpers zu erforschen und Krankheiten zu heilen. Daher ist die Humoralpathologie in Europa allenfalls noch in traditionellen Nischen und in Teilbeständen anzutreffen. Aber das ist nicht überall so. Es gibt nämlich einen Ort, wo diese alten Vorstellungen noch lebendig sind, wo sie nie „ausrangiert“ wurden und man sie auch heute noch studiert. Es ist das Land, in dem fast alles möglich scheint: Indien.

Hier gibt es die traditionelle Säftelehre sogar als Universitätsstudium. In der Hauptstadt Neu-Delhi, aber auch in anderen Städten besonders im Norden Indiens kann man heute einen Bachelor in “Unani Medicine” machen: den BUMS. Das steht für “Bachelor of Unani Medicine and Surgery”, also “Bachelor in Unani Medicine und Chirurgie”. “Unani Medicine” ist die indische Bezeichnung für die Humoralpathologie. „Unani“ spricht man „junani“ aus, und alle Vokale sind lang. Das bedeutet auf arabisch, persisch und Urdu „griechisch“ (eigentlich: „ionisch“). Urdu ist eine nordindische Sprache, die mit arabischer Schrift geschrieben wird und auch viele arabische und persische Worte enthält. Sie wird auch in Pakistan gesprochen. Doch zurück zur Medizin: Nach indischer Vorstellung ist die Humoralpathologie also „griechische Medizin“ – jedenfalls, wenn man der Bezeichnung glauben darf. Tatsächlich stützen sich die Vertreter der “Unani Medicine” vor allem auf arabische Werke, die meist auch ins Urdu übersetzt worden sind.

Diese arabischen Werke sind entweder ihrerseits Übersetzungen älterer griechischer Werke, zum Beispiel von Galen, oder sie sind eigenständige Weiterentwicklungen und Systematisierungen wie Avicennas „Canon“. Es gibt aber auch persische Werke, nicht nur aus der Zeit des prächtigen Mogulhofes, sondern zum Teil schon aus dem 11.-16. Jahrhundert. Auch damals gab es nämlich schon muslimische Herrscher in Nordindien, deren Hof- und Kultursprache Persisch war. Trotzdem halten die indischen Vertreter der “Unani Medicine” daran fest, daß ihre Bezeichnung „griechische Medizin“ richtig sei. Schließlich habe auch die Medizin, die im islamisch geprägten Kulturraum weiterentwickelt worden ist, ihre Grundlage in der griechischen Medizintradition der Spätantike. Die Grundlagen seien also bis heute dieselben geblieben.

Ob man daraus schließen muß, daß „Unani Medicine“ die einzig mögliche oder auch nur die einzig richtige Bezeichnung ist, bleibt aber zweifelhaft. Zumindest gibt es in den muslimischen Nachbarländern Indiens noch andere Bezeichnungen. In Pakistan spricht man auch von „Eastern Medicine“, in Iran von „Tebb-e sonnati“, das heißt: „traditionelle Medizin“. Um die Disziplin, die sich auf das griechische Erbe stützt, von der iranischen Volksmedizin zu unterscheiden, hat man in Iran auch Vorschläge für eine passendere Bezeichnung für die Medizin in der antiken griechischen Tradition gemacht, zum Beispiel: „Medizin der islamischen Epoche“ (tebb-e doure-ye eslami).

Die indische “Unani Medicine” hat also eine lange Geschichte, und manchem mag sich der Eindruck aufdrängen, sie müsse eigentlich selbst längst Geschichte sein. Wenn man sich aber vorstellt, daß die Studieninhalte des BUMS in Indien sich auf die traditionelle Humoralpathologie beschränken, so täuscht man sich. Zunächst werden anatomische und physiologische Kenntnisse der modernen westlichen Medizin vermittelt, erst dann wendet man sich den traditionellen Inhalten der “Unani Medicine” zu. Doch auch die vorbeugende Medizin, die in der traditionellen Humoralpathologie an erster Stelle steht, enthält zu einem großen Teil Inhalte aus der modernen westlichen Medizin wie Impfung, Sterilisierung und Desinfektion. Wer einen BUMS erworben hat, ist also bis zu einem gewissen Grad auch in moderner westlicher Medizin ausgebildet und kann grundsätzlich integrativ arbeiten. Ob und wie dies tatsächlich praktiziert wird, ist eine andere Frage. Hier gibt es noch einen großen Forschungsbedarf vor allem für Medizin-Ethnologen.

Neben den formal ausgebildeten Ärzten, die einen BUMS oder sogar weiterführende akademische Grade erworben haben, gibt es aber immer noch (überwiegend ältere) Hakime, die keine solche Ausbildung durchlaufen haben. Sie haben ihre Kenntnisse noch wie früher üblich von einem Hakim erworben, der sie unterwiesen hat. Meist ist das der Vater oder ein anderer Verwandter, denn dieses Wissen ist in der Regel eine Familientradition. Erprobte Rezepte und die Regeln ihrer Anwendung werden so von Generation zu Generation weitergereicht. Solche Hakime bekommen zwar keine staatliche Anerkennung, aber sie werden von Patienten aufgesucht und lassen meist ihre Kinder oder anderen jüngeren Verwandten an den staatlichen Institutionen studieren. Manche etablierten Hakime nehmen auch Absolventen des BUMS eine Zeitlang in ihre Praxis auf, damit sie Erfahrungen und mehr Ansehen erwerben können. Langjährige Erfahrung ist denn auch wesentlich für Diagnose und Behandlungserfolg der Hakime. Allerdings nehmen die Hakime auch gern die Diagnosen ihrer “biomedizinischen” Kollegen als Grundlage – zum Beispiel Blutwerte und Röntgenbilder. Trotzdem fühlen sie meist auch den Puls des Patienten (manchmal vor allem deshalb, weil dieser das vom Hakim erwartet), und manche Ärzte untersuchen sogar den Urin der Patienten noch heute auf traditionelle Weise: durch Begutachtung der Farbe sowie Geruchs- und Geschmacksproben. In Indien ist eben alles möglich, sogar ein lebendiges Gestern im Heute.

Quellen

http://de.wikipedia.org/wiki/Humoralpathologie

U. Weisser: “AVICENNA xiii. The influence of Avicenna on medical studies in the West”, Encyclopaedia Iranica, online edition, 1987 (Update: 2011), verfügbar unter http://www.iranicaonline.org/articles/avicenna-xiii (zuletzt aufgerufen am 01.03.2014)

http://services.langenscheidt.de/fremdwb/fremdwb.html

http://www.muhsnashik.com/Syllabus/BUMS/BUMS_Syllabus.htm

Farid Ghassemlou: „Pīš-nehād-e estefāde az eṣṭelāḥ-nāme-hā dar ḥouze-ye maʿnā-šenāsī-vāže-šenāsī-ye ṭebb-e sonnatī“ Piyām-e Bahārestān 2,3 (Sondernummer Ṭebb-e sonnatī) (1390 š./2011) 17-25.

gelegentliche mündliche Mitteilungen meiner Kollegin Kira Schmidt Stiedenroth, MA (Medizin-Ethnologin)


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