Kurze Geschichte des Kalifats

Aus gegebenem Anlaß möchte ich einen knappen Überblick über den historischen Hintergrund von Begriffen wie “Kalif” und “Kalifat” geben – gewissermaßen als Unterfütterung dessen, was derzeit wieder regelmäßig über die Fernsehbildschirme geistert. Mir zumindest erscheint das nützlich.

Wie Sie vielleicht wissen, war Mohammed nach seiner Übersiedlung von Mekka nach Medina nicht mehr nur Prophet, sondern zugleich Leiter einer Gemeinschaft, eines politischen Gebildes also. Diese besondere Verbindung der Funktionen von Gottes Gesandtem und Sprachrohr und denen des Anführers einer Gruppe von Menschen war einzigartig und nach dem Tode des Propheten Mohammed nicht wiederholbar. Dennoch brauchte die Gemeinschaft der Muslime eine Führung. Mittlerweile war diese Gemeinschaft beträchtlich gewachsen und umfaßte nun auch einige arabische Stämme und neben den Einwohnern Medinas noch die Bevölkerung Mekkas. Und da man an einen Propheten als Anführer gewöhnt war, wollte man auch weiterhin eine Führung haben, die neben der Fähigkeit zur weltlichen Regierung auch über eine gewisse religiöse Autorität und Vorbildfunktion verfügte – auch wenn diese dem Propheten Mohammed nicht nahekommen konnte. Schließlich einigte man sich in den Jahren 632 bis 661 auf insgesamt vier “Kalifen”, die nacheinander diese Aufgabe übernahmen und später die “rechtgeleiteten” (râschidûn) genannt wurden.

“Kalif” ist die deutsche Form des arabischen Wortes “chalîfa” (mit hartem “ch” vorne wie im deutschen “Dach”), und das bedeutet “Nachfolger” oder “Stellvertreter”. In der zweiten Bedeutung wurde das Wort übrigens weiter verwendet. Es bezeichnet also nicht in jedem Zusammenhang den Kalifen. Der vierte Kalif war ‘Alî, der Vetter und Schwiegersohn des Propheten Mohammed und Vater von dessen Enkeln al-Hasan und al-Husain. Nach ihm ging das Kalifat (auf arabisch heißt das zugehörige Substantiv chilâfa) auf den Rivalen ‘Alîs über, der in Damaskus residierte. Er wurde der Begründer der ersten Kalifendynastie, denn die Führung aller Muslime blieb für fast hundert Jahre in seiner Familie. Diese Dynastie – die Banû Umayya – heißt in der westlichen Forschung die Umayyadendynastie.

Allerdings gab es viele Muslime, die mit dieser Entwicklung nicht einverstanden waren. Einige religiös besorgte Gemüter waren der Auffassung, die Umayyaden seien keine Kalifen mehr, sondern nur noch “Könige”. Das sollte heißen, sie verfügten über keine religiöse Autorität und seien vor allem keine vorbildlichen Muslime und deshalb gar nicht geeignet, die religiöse Führung der Gemeinschaft zu übernehmen. Hinzu kam, daß diese Familie von einem der Gegner Mohammeds abstammte, der erst sehr spät zum Islam übergetreten war.

Eine andere wichtige Gruppierung mit abweichender Auffassung waren die Anhänger ‘Alîs, die sich mit der Zeit zur Schia entwickelten. “Schia” ist eine Verkürzung von “Schî’at ‘Alî”, und das heißt nichts anderes als “Partei ‘Alîs”. Sie waren der Meinung, daß ‘Alî als erster männlicher Muslim und nächster Verwandter Mohammeds sofort zu seinem Nachfolger hätte bestimmt werden müssen. Außerdem entwickelten sie die Ansicht, daß nur ein Nachkomme ‘Alîs der rechtmäßige “Imâm” der Muslime sein könne. “Imâm” bedeutet in etwa “Vorsteher” und bezeichnet nicht nur den, der dem Gebet “vorsteht” (nämlich ganz konkret), sondern auch den “Vorsteher” der Gemeinschaft der Muslime. Es ist in diesem Zusammenhang also zunächst nur ein anderes Wort für den Leiter der Gemeinschaft, der sonst als “Kalif” bezeichnet wird.

Natürlich gab es auch noch andere Gruppen, die eigene Ansichten vertraten, aber darauf einzugehen würde hier zu weit führen. Wichtig ist eine weitere Gruppierung, die sich zunächst mit der entstehenden Schia gegen die Umayyaden zusammentat und diese im Jahr 750 stürzte. Die Anhänger dieser Bewegung vertraten die Auffassung, daß der Kalif ein Mann aus dem Clan des Propheten sein und auch über religiöse Autorität verfügen müsse. Beides traf auf die Umayyaden nicht zu. Deshalb unterstützten die Anhänger dieser Bewegung einen Anwärter aus der Nachkommenschaft des ‘Abbâs, der ein Onkel des Propheten Mohammed gewesen war. Sie setzten sich auch tatsächlich gegen die Umayyaden durch und den ersten Abbasidenkalifen auf den Thron. Wie unschwer zu erkennen ist, wurde die neue Dynastie nach ihrem Ahnen ‘Abbâs benannt. Als Sitz der Abbasiden wurde eine neue Stadt gegründet, die bald als Bagdad bekannt wurde. Natürlich hatten nicht nur religiöse Gründe zu dieser grundlegenden Wende geführt, sondern auch allerlei soziale und kulturelle Probleme, aber auch das würde hier zu weit führen.

Doch die Abbasiden schafften es auch nicht lange, ihr großes Reich als weltliche Herrscher und religiöse Autoritäten zusammenzuhalten. Bereits seit dem 9. Jahrhundert waren die Kalifen nicht mehr sonderlich mächtig, im 10. Jahrhundert wurde Bagdad von den schiitischen Bûyiden erobert, und der Kalif hatte nicht einmal mehr einen eigenen Wesir, geschweige denn Macht über seine Stadt. Auch in späteren Jahrhunderten gelang es den Abbasidenkalifen nicht, mehr als lokal begrenzte politische Bedeutung zu erlangen. Gerade das förderte aber die religiöse Autorität der Kalifen, denn sie wurden von den tatsächlichen Machthabern kaum noch als mögliche politische Gegner wahrgenommen und damit über die Streitigkeiten zwischen Herrschern emporgehoben. Dafür wurde ihr nach wie vor bestehender Anspruch, die religiösen Leiter der gesamten muslimischen Gemeinschaft zu sein, zumindest von den Sunniten umso ernster genommen. Es gab ja spätestens ab dem 10./11. Jahrhundert auch genügend Machthaber, die ihre Herrschaftsgebiete mit dem Schwert erobert hatten und nun darauf angewiesen waren, von ihren Untertanen als rechtmäßige Herrscher anerkannt zu werden. Hier half eine Anerkennung durch den abbasidischen Kalifen.

Zwischendurch eroberten die ismailitischen Schiiten im 10. Jahrhundert Ägypten und Syrien und begründeten dort das Gegenkalifat der Fatimiden. Sie stifteten durch ihre aktive Missionstätigkeit und militärische Unternehmungen eine Menge Unruhe im verbliebenen Geltungsbereich des Abbasidenkalifats, bis die Dynastie im 12. Jahrhundert ihr Ende fand. Das Kalifat, das die überlebenden Nachkommen der Umayyaden in Spanien errichteten, darf man natürlich auch nicht vergessen, doch es war weder allzu langlebig noch von weitreichendem Einfluß.

Das vorhin erwähnte Arrangement zwischen den Abbasidenkalifen und verschiedenen Eroberern, die von den Kalifen als rechtmäßige Herrscher anerkannt wurden, ging so lange einigermaßen gut, bis die Mongolen unter einem Enkel Dschingis Khans auf der Bildfläche erschienen. Sie waren keine Muslime und hatten entsprechend wenig Respekt vor dem religiösen Ansehen des Kalifen. Und da er sich ihnen widersetzte, ohne sich aber angemessen verteidigen zu können, fiel er im Jahr 1258 bei der mongolischen Eroberung Bagdads den Mongolen in die Hände und fand ein unschönes Ende.

Ein Flüchtling aus Bagdad tauchte einige Zeit später bei den Herrschern von Ägypten auf und behauptete, er sei ein überlebender Abbaside. Das kam den Ägyptern gerade recht. Sie setzten ihn als Kalifen ein und ließen ihn forthin ihre wechselnden Herrscher offiziell anerkennen. Da es weiterhin auch in anderen Regionen Herrscher gab, die eine solche Anerkennung nützlich fanden, ließen auch sie sich nun von dem abbasidischen “Schattenkalifen” in Kairo eine Einsetzungsurkunde schicken.

Letzten Endes geriet Ägypten im Jahr 1517 unter die Herrschaft der Osmanen, und der osmanische Sultan kam bald auf die Idee, sich selbst zum Kalifen zu machen. Schließlich kontrollierte er den Zugang zu den beiden Zentren der Pilgerfahrt – Mekka und Medina – und konnte behaupten, der abbasidische “Schattenkalif” in Ägypten habe ihm die Kalifenwürde übertragen.

Mit dem Ende der Osmanen endet demnach im Jahre 1924 die klassische Geschichte des Kalifats. Doch man darf sich nicht täuschen: Immer wieder und natürlich auch in der Gegenwart besannen und besinnen sich die verschiedensten regionalen Herrscher und muslimischen Gruppierungen auf die gute alte Zeit und damit auch auf das Kalifatskonzept. Es steht für den Anspruch auf die rechtmäßige politische und religiöse Herrschaft über alle Muslime und beschwört ein Ideal herauf, das es historisch nie gegeben hat (denn selbst in der Zeit der ersten vier Kalifen herrschte alles andere als Eintracht und eitel Sonnenschein). Das schmälert aber nicht die psychologische und ideologische Wirkung des Anspruchs.

Ach ja, für diejenigen von Ihnen, die bei dem Begriff “Kalif” noch an die Geschichten aus 1001 Nacht denken: Hârûn ar-Raschîd war Abbaside. Und für alle anderen: Die Farbe der Abbasiden und ihrer Standarten war übrigens Schwarz.

Für einen Überblick über die Kalifen kann man sich diese Liste anschauen und von dort weiterklicken.

Quellen

Ausnahmsweise mal hauptsächlich mein Gedächtnis. 😉

Ein paar Daten habe ich zur Sicherheit hier nochmal nachgeschlagen:

Gerhard Endreß: Der Islam: Eine Einführung in seine Geschichte. 2., überarb. Auflage. München: Beck, 1991. (Zeittafel auf 191-246.)

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